Meridian - Flüsternde Seelen
in letzter Zeit bei einem Mädchen gesehen habe. Ich würde wetten, dass sie immer nur die Spitzen abschneidet. Goldenes Haar, das echte Blond, das kein Färbemittel und kein Friseursalon erreichen kann. Einige Strähnen waren weiß wie frische Butter, andere kräftig gelb wie Weizen zur Erntezeit. Manche fingen das Licht ein und nahmen die Farbe von Zitronen an. Ihre Augen waren so ungewöhnlich, dass ich wirklich überrascht war.«
»Blau? Grün?«
»Goldbraun. Wie reife Eicheln. Diese Farbe kommt bei Augen selten vor. Ich schaue jedem Menschen in die Augen. Sie sind wie Glas, wenn man richtig darauf achtet. Klar oder milchig, strahlend oder feucht. Sie sprechen. Wenn die Augen wirklich die Fenster zur Seele sind, dann sind die dieses Mädchens verrammelt und verriegelt.« Rumi erschauderte theatralisch. »Aber dieses Heim – der liebe Gott schütze die armen Seelen dort. Oder vielleicht sollten Sie ihnen helfen. Ich könnte einen Freund anrufen, aber sie brauchen die Wiederkehr eines Erlösers. Ich denke, Sie wären geeignet.«
Ich erbleichte. »Ich bin nicht Gott.« So göttlich war ich nun wirklich nicht.
»Ach, zum ersten Mal verraten Sie mir etwas über sich.« Er schien mit sich zufrieden, als hätte er mich überlistet, eine wichtige Information preiszugeben.
Ich verdrehte die Augen und grinste wie Tens vorhin, weil ich es mir nicht verkneifen konnte. Rumi hatte aus unerklärlichen Gründen etwas an sich, das mich ohne große Umschweife dazu brachte, ihm all meine Gedanken und Geheimnisse anzuvertrauen. So als sei er – ähnlich wie die Señora – zum Geheimnisträger bestimmt.
Er fuhr fort. »Sie heißt Juliet und ist ein Pflegekind. Die Einladungen hat sie zwar genommen, doch ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sie weggeworfen hat. Dieses Haus wird von Angst beherrscht, von dem Zwang, sich selbst zu schützen und zurückzuziehen. Und was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung.« Ich wusste es wirklich nicht. Ich war so damit beschäftigt gewesen, sie zu suchen, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte, was wir tun sollten, wenn wir sie fanden.
Rumi erschauderte und tat meine Antwort ab. »Sie müssen doch irgendwelche Vorstellungen haben. Selbst wenn es nur eine Theorie ist. Weshalb suchen Sie sie überhaupt?«
Tens ergriff das Wort und erzählte ihm die erfundene Geschichte von meiner Adoption und meinem Wunsch, meine leibliche Familie zu finden. Das war zwar eine faustdicke Lüge, aber wenigstens eine, an die wir uns erinnern würden. Da die Leute uns glaubten, blieben wir bei dieser Version. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht die Wahrheit sagte, doch es war ein notwendiges Übel, wenn wir nicht auffliegen wollten. Hoffentlich würden wir Rumi so gut kennenlernen, dass wir ihm eines Tages trauen konnten, denn vermutlich würde er sich von allen Menschen auf der Welt am meisten freuen, wenn er die Wahrheit erfuhr.
Rumi stellte seine Teetasse auf den Tisch und sah erst Tens und dann mir unverwandt in die Augen. »Gut, ich verstehe, dass Sie sich fragen, ob Sie mir vertrauen können. Das kann ich wirklich nachvollziehen. Es enttäuscht mich zwar, aber ich kann damit leben. Ich kann mich auch damit anfreunden, Ihnen zu helfen, ohne zu wissen, warum oder wobei, falls es eine wichtige Sache ist, die wir da ans Licht bringen. Doch ich möchte unter gar keine Umständen angelogen werden.« Er zeigte auf mich. »Sie waren krank, allerdings an der Seele, nicht an den Nieren, und Sie sind eindeutig auf dem Wege der Besserung. Sagen Sie dem alten Rumi doch einfach, dass Sie nicht antworten können, aber lügen Sie mich nicht an. Einverstanden?«
Tens nickte. »Einverstanden.«
Ich wurde von dem unerklärlichen Gefühl ergriffen, dass ich ihm vertrauen könnte, wenn man mir die Chance dazu gab. »Ich möchte …«, stammelte ich.
»Und eines Tages werden Sie mir vertrauen. Eines Tages werde ich Sie anflehen, still zu sein. Da bin ich sicher. Doch bis es so weit ist, müssen wir uns besser kennenlernen. Ich habe Ihnen einige Zeichnungen von meiner Nain mitgebracht. Sie könnten sich als hilfreich erweisen. Oder auch nicht. Ich lasse sie Ihnen hier, damit Sie sie unbeobachtet von mir würdigen können.«
Sehr rücksichtsvoll. »Danke.«
»Keine Ursache. Aber bringen Sie sie mir morgen Abend um sieben zurück.« Er stand auf.
»Um sieben?«, wiederholte ich.
»Ich habe einige zuverlässige Leute zum Abendessen eingeladen, die ich Ihnen gern vorstellen
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