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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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umklammerte, als es gegen meinen Arm stieß. Rasch zog ich die Hand weg.
    »Keine Sorge, mein Kind, sie hat dich schon adoptiert. Unsere Custos ist nämlich ziemlich wählerisch und mag normalerweise keine Fremden.«
    »Normalerweise frisst sie sie zum Frühstück. Dein Glück, dass es gestern schon so spät war.« Nur der leichte Anflug eines Lächelns spielte um Tens’ Lippen. Offenbar musste er noch an seinem Sinn für Humor arbeiten.
    »Tens!«, rügte Tante Merry, während ich mich zur Sitzpo sition aufrichtete. »Custos beißt nicht«, erklärte siemir. »Zumindest nur selten.« Als sie die Kissen hinter meinem Kopf zurechtklopfte, stieg muffige, feuchte Luft daraus auf.
    Im Kamin brannte ein Feuer, dessen Knacken und Knistern in mir das Gefühl auslöste, in einer Zeitmaschine gelandet zu sein. Die Tante holte sich einen Stuhl und winkte Tens näher heran. »Das ist Tens, Meridian, so etwas wie mein Diener Freitag. Am Wochenende betätigt er sich auch als Komiker.«
    Er machte mich nervös, so dass ich kaum einen Ton herausbrachte. Nachdem er mir das Tablett auf den Schoß gestellt hatte, wich er zurück, als litte ich an einer ansteckenden Krankheit. »Hier. Iss.«
    Ich bemerkte, dass ich nur ein T-Shirt trug – und noch dazu eines, das ich nicht kannte. Der Gedanke, dass dieser tolle Typ, der mich offenbar nicht ausstehen konnte, mich womöglich nackt gesehen hatte, ließ mir das Blut in die Wangen steigen. Meine Hand zitterte so sehr, dass ich den Löffel weglegte, um die Suppe nicht zu verschütten. »Warum bin ich hier?«
    Custos winselte und näherte sich dem Bett, als hätte sie sich am liebsten dazugelegt. Sie verunsicherte mich weniger als Tens.
    »Mich beißt sie nicht.« Mit einem selbstzufriedenen Grinsen bückte er sich, um Custos zu streicheln, was meine Verlegenheit noch steigerte.
    »Was?«, fragte ich.
    »Custos beißt keine Menschen, die sie mag.« Er kehrte mir den Rücken zu und stocherte im Kamin herum.
    »Spitze. Aber was wird hier gespielt?«
    »Anscheinend mag sie dich auch.« Wie er es aussprach,klang es, als teile er die Meinung des Wolfes nicht und läge ohnehin mit der ganzen Welt über Kreuz.
    »Danke, schon kapiert. Beantwortest du jetzt endlich meine Frage?« Ich gab es auf und griff, fast ohne zu zittern, nach dem Löffel.
    Tante Merry schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Tens, hör auf, sie zu ärgern. Kümmere dich nicht um ihn, Kleines. Iss deine Suppe, bevor sie noch so kalt wird wie du vorhin. Dann kannst du uns von deinen Abenteuern erzählen. Es tut mir leid, dass wir dich nicht abgeholt haben. Ich wollte es tun.«
    Tens brummte etwas, das verdächtig nach »lebensmüde« klang.
    »Tens«, ermahnte sie ihn wieder, diesmal in eisigem Ton, worauf er aufsprang, hinausmarschierte und die Tür hinter sich zuknallte. Vor lauter Schreck verschüttete ich Suppe auf mein T-Shirt.
    »Mist.« Die Tante wischte an mir herum und reichte mir dann ein anderes T-Shirt, das ich ebenfalls nicht kannte, damit ich mich umziehen konnte. Wann hatte ich zum letzten Mal etwas Richtiges gegessen? Vor Tagen? »Warum wart ihr nicht da? Was ist mit mir los?«
    Sie ging nicht auf meine Fragen ein und plauderte stattdessen unablässig über Belanglosigkeiten, als hätte ich auf meinem iPod auf PLAY gedrückt. Das meiste verstand ich nicht, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, nicht noch mehr Suppe zu verschütten. Etwas so Köstliches wie diese Suppe hatte ich noch nie gegessen. Aber ich verkniff mir die Bitte um einen Nachschlag. »Was ist eine Fenestra? Wo sind meine Eltern?« Bald gab ich das Nachbohren auf, weil sie mir immer wieder geschickt auswich.
    Es war schwierig, ihr böse zu sein, denn sie übte eine beruhigende, fast hypnotische und friedliche Wirkung auf mich aus. Es reichte ihr, dass ich hin und wieder etwas brummte, damit sie weiterredete. Bald sank ich erneut in einen tiefen Schlaf.
    Ich erwachte mit dem Gefühl, dass ich zu lange geschlafen und dabei etwas Wichtiges verpasst hatte. Das Feuer im Kamin war zwar fast heruntergebrannt, aber das Licht reichte, um zwei Kleiderstapel auf einem Stuhl zu erkennen. Ich sah mich im Zimmer um. Die geblümte Tapete hätte in das Haus von George Washington gepasst. Der Kaminsims war glänzend weiß. Antike Möbel in verschiedenen Brauntönen waren im Raum verteilt. Das gewaltige Himmelbett erinnerte mich an einen See. Samt und Brokatstoffe waren überall drapiert, und die Bettwäsche roch muffig, als würde sie nur selten benutzt. Als

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