Meridian
aus den Fenstern im Erdgeschoss strömte, färbte den Schnee buttergelb. Vor dem Haus stand reglos ein grüner Landrover.
»Hilfe!«, rief ich und klang dabei wie eine Maus mit Halsentzündung.
»Sie wartet schon seit Stunden …«
»Wenn du mir erlaubt hättest, vier Ersatzreifen anzuschaffen, damit ich die hier nicht flicken muss …«
»Wer hat schon vier Ersatzreifen?« Die Stimme, die hinter dem Geländewagen hervorkam, klang melodisch wie eine Flöte.
»Jemand, dem so oft die Reifen aufgeschlitzt werden, sollte es sich überlegen«, wurde zurückgebrummelt.
»Sie würden die neuen Reifen auch aufschlitzen. Aber du hast recht. Besorge so schnell wie möglich Ersatzreifen. Was muss sie wohl von uns halten?«
Ich umrundete den Landrover und lehnte mich dagegen. »Verzeih …« Weil ich das Wort nicht herausbrachte, klopfte ich an das Fahrzeug, um auf mich aufmerksam zumachen. Meine letzte Kraft floss durch meine Füße ab in den Schnee, und ich konnte nur noch nanosekundenweise die Augen offen halten.
Niemand hörte mich. Im nächsten Moment krachten im Wald hinter mir Äste. Ich drehte mich um und sah, dass sich ein riesiger Wolf auf mich stürzte. Ich glaube, dass ich aufschrie, bin aber nicht sicher.
Der Wolf verbiss sich in einen Stiefel, der in ein Bein in einer Drillichhose überging und unter dem Geländewagen hervorragte, und zerrte daran.
Im nächsten Moment schob sich ein Körper unter dem Auto hervor. Dann richtete sich der Junge zu mindestens einem Meter achtzig auf. Ich konnte nur pechschwarzes Haar, scharf geschnittene Wangenknochen und Hände groß wie Teller erkennen. Er war so hochgewachsen, dass mir vom Hinaufsehen das Genick weh tat.
»Schau, ich habe dir doch gesagt, dass sie irgendwann aufkreuzt.« Sein tiefer Bariton erinnerte an das Knurren des Wolfes.
Ich hielt mich an der Seite des Rover fest. »Ich …«
»Mein Gott, sie ist ja halb erfroren.« Etwas Buntes flatterte auf mich zu.
»Dann hätte sie sich eben wärmer anziehen müssen. Du hast doch gemeint, ihre Mutter würde ihre Sachen zusammenpacken. Wo sind sie?«
Ich schluckte und versuchte, hinter mich zu deuten, wo ich das Gepäck zurückgelassen hatte, während die Welt plötzlich kippte und sich an den Rändern dunkel verfärbte. Ich wollte noch etwas sagen, aber es wurde schwarz um mich.
Kapitel 5
Mein Traum war so real, dass ich alles darin riechen, schmecken und anfassen konnte. Meine Eltern saßen mit Tausenden anderer Menschen in einem vollbesetzten Amphitheater, um mir zuzuschauen. Ich stand mitten auf der Bühne im viel zu grellen Scheinwerferlicht. Wenn ich ganz genau hinsah, konnte ich einzelne Personen im Publikum ausmachen. Ich spürte, wie sie alle mit angehaltenem Atem auf meine Darbietung warteten. Doch ich wusste nicht, was sie von mir wollten.
Erst hatte ich eine Harfe in der Hand, dann eine Nadel und schließlich eine Pistole. Bei jedem Wimpernschlag änderte sich der Gegenstand.
Jemand versuchte, mich von der Bühne zu stoßen. Aber ich wollte nicht gehen und wehrte mich. Dann hörte ich Applaus. Ich kippte in den Orchestergraben und stürzte immer weiter. Ich fiel und fiel durch einen Raum, der so unendlich, schwarz und erfüllt von nichts war, dass er sich schwer anfühlte wie flüssiger Stahl.
Nach Luft ringend, öffnete ich die Augen und starrte zu einem Betthimmel aus schimmernd blauer Seide hinauf. Mein Atem ging stoßweise, als wäre ich vor dem leibhaftigen Teufel geflohen.
»Ganz ruhig, mein Kleines.« Hellblaue Augen und platinblondes Haar kamen in Sicht. »Ich bin deine Tante Merry. Alles wird gut.«
Ich blinzelte und versuchte, mich unter dem Haufen aus Decken wiederzufinden. Meine Haut juckte und prickelte.
»Falls wir dir nicht wegen Erfrierungen den linken Fuß amputieren müssen.« Der schlaksige Riese brachte ein Tablett herein. Er wirkte ein wenig herablassend, doch ich machte ihm keinen Vorwurf daraus. Schließlich kannten wir uns nicht. Dennoch erschien er mir irgendwie vertraut. Der Duft von frischer Hühnerbrühe mit Petersilie und Sellerie breitete sich in dem kleinen Raum aus.
Offenbar stand mir die Angst ins Gesicht geschrieben, denn die Tante schimpfte: »Tens, du sollst sie nicht hänseln.« Sie tätschelte mir das Bein. »Du hast dir nur den Fuß ein wenig erfroren.«
Er schnaubte unbeeindruckt. »Geschieht ihr ganz recht, wenn sie drei Kilometer im Minirock durch den Schnee stapft.«
Ich bemerkte erst, dass meine rechte Hand das Fell des Wolfes
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