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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Haarspitzen. Ein schwarzer Streifen begann genau in der Mitte ihrer Schnauze, verlief bis zur Schwanzspitze und schien sie in zwei Hälften zu teilen. Dunkles Fell im Gesicht bildete eine Maske wie bei einem Banditen, und sie hatte golden funkelnde Augen. Ihre Zungenspitze wies einen schwarzen Punkt auf, als hätte sie an einem Bleistift gelutscht.
    Auf meinem Weg weiter den Flur entlang kam ich an immer mehr Steppdecken vorbei. Es waren Stapel davon, außerdem noch Kissenbezüge und Stühle mit gesteppten Sitzflächen. Es war, als bewegte ich mich durch eines der Kaleidoskope mit Glasperlen darin, wie ich sie als Kind besessen hatte.
    Nach einer Weile erreichte ich eine gewaltige geschwungene Treppe. Durch die Stäbe des Geländers konnte ich sehen, dass unten Licht brannte. Es malte springende Hirsche und rundäugige Eulen an die Wände.
    Custos versetzte mir einen Stups und huschte die Treppe hinunter. Ich folgte, froh, dass die Wölfin mir die Entscheidung abgenommen hatte.
    Ich spähte um die Ecke in ein geräumiges Wohnzimmer. Die einzigen Steppdecken hier lagen gefaltet auf der Lehne eines antiken, mit Rosshaar gepolsterten Sofas. Leuchtend smaragdgrüne Ohrensessel standen zu beiden Seiten des marmornen Kamins. Eine riesige Fichte war mit echten Kerzen und bunten Glaskugeln in allen Farben des Regenbogens geschmückt. War es denn schon Weihnachten?
    »Na, wenn das nicht unser Schneewittchen ist.«
    Ich schluckte und spürte, wie Tens’ Abneigung gegen mich den Raum erfüllte. Zu gerne hätte ich gewusst, wasich getan hatte, um ihn so gegen mich aufzubringen. »Dann bist du wohl einer von den sieben Zwergen.«
    »Sehr witzig. Hast du Hunger?« Er machte kehrt und ging einen Flur entlang. Custos trottete neben ihm her.
    »Verräterin«, murmelte ich.
    Ich folgte den beiden. Als mir der Geruch nach Zimt, Vanille und frisch gebackenem Brot in die Nase stieg, knurrte mir der Magen.
    »Endlich hat sie Hunger gekriegt«, verkündete Tens beim Betreten der Küche. »Hoffentlich isst sie gern Bambi.« Er nahm einen Krug Orangensaft aus dem Kühlschrank, lehnte sich an den Türrahmen und trank gierig daraus.
    »Jetzt reicht es.« Die Altfrauenstimme meiner Tante klang stahlhart. »Hallo, Kleines. Fühlst du dich ein bisschen besser?« Rasch umfasste sie mein Gesicht mit beiden Händen und blickte mir von unten in die Augen. Bis jetzt hatte ich gar nicht bemerkt, wie klein sie war.
    »Wahrscheinlich.« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich auf diese Frage antworten sollte.
    »Sicher hast du Hunger. Setz dich.«
    Ich dachte an die Kerzen, die unbewacht an dem Baum im Wohnzimmer brannten. Meine Mutter bestand darauf, dass Kerzen nur etwas für Notfälle waren und nie unbeaufsich tigt bleiben durften. Da ich niemanden kannte, der unge zwungen mit offenem Feuer umging, hatte ich einen Heidenrespekt davor. »Sollten wir nicht besser die Kerzen auspusten?«
    »Ach was, das ist ein frischer Baum. Das Haus wird deshalb sicher nicht abbrennen. Heute ist Heiligabend, mein Kind. Es gehört zur Tradition.« Lächelnd strich Tante Merry mir das Haar aus der Stirn.
    »Oh.« Heiligabend. Wie schnell die Zeit verging. Ich fragte mich, wo meine Eltern waren und was Sam heute Abend tat. Früher war er zu mir ins Zimmer geschlichen, um sich wach zu halten und den Weihnachtsmann abzupassen. Würde er es heute genauso machen? Vermisste er mich? Ich wusste nicht, was er sich zu Weihnachten gewünscht hatte. Hatte er es mir nicht erzählt, oder hatte ich es überhört?
    Die Tante scheuchte mich zu einem Stuhl an einem alten Mahagonitisch, der wohl aus einem Bauernhaus stammte, und legte eine dicke Scheibe Brot vor mich hin. Dann strich sie Butter darauf, als hätte sie es mit einer Behinderten zu tun. »Das kann ich selbst.« Ich griff nach dem Messer.
    Sie gab es mir. »Natürlich. Du hast uns nur so einen Schrecken eingejagt.«
    »Tut mir leid.« Ich glaubte, dass sie eine Entschuldigung erwartete.
    »Ich weiß, dass du viele Fragen auf dem Herzen hast.« Sie löffelte einen dicken braunen Eintopf in eine Keramikschale.
    »Ja, sie sieht aus wie ein Kriegsflüchtling«, ließ sich Tens aus dem Hintergrund vernehmen.
    Klasse, ich muss ja ein Bild des Grauens sein.
Aber warum interessierte mich das? Ich warf ihm einen zornigen Blick zu, der sich hoffentlich wie eine Ohrfeige anfühlte.
    »Wenn du möchtest, gibt es Weihnachtsplätzchen zum Nachtisch. Greif zu. Wir haben schon gegessen. Tens, könntest du mir einen Tee einschenken und

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