Meridian
ich mich wohlig räkelte, bemerkte ich meinen Lieblingsstoffhasen auf dem Kissen. Auf dem Nachtkästchen neben mir standen einige gerahmte Familienfotos.
Das lächelnde Gesicht meiner Mutter holte mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Am liebsten hätte ich mich unter der Decke verkrochen und gehofft, dass alles nur ein böser Traum war. Aber es war nicht mein Stil, mich zu verstecken. Das hoffte ich wenigstens. Hatte ich überhaupt einen Stil?
Als ich meine Kleider in den Stapeln erkannte, wurde mir klar, dass ich Tens für die Rettung meiner Sachen zu Dank verpflichtet war. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass meine Tante durch den Schnee gestapft war, um sie zu holen. Allerdings wollte ich ihm nichts schuldig sein. Vorsichtig stand ich auf und bewegte die Zehen. Sietaten weh und waren gerötet, als hätte ich sie mir verstaucht.
Ich zog ein Höschen, meinen bequemsten BH, meine Lieblingsjeans, ein Thermo-Unterhemd und den roten Kaschmirpulli an, den meine Eltern mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatten. Nicht unbedingt eine modische Aufmachung. Ich war für mein Alter ungewöhnlich klein – ganz im Gegensatz zu meiner hochgewachsenen, kräftig gebauten Familie – und konnte als Elfe durchgehen. Oder als Drittklässlerin mit Busen. Kurz überlegte ich, ob ich mich noch einmal umziehen sollte. Als ich mich bei dem Wunsch ertappte, Tens beeindrucken zu wollen, erschauderte ich.
Spitze. Jetzt schwärmst du schon für einen Typen, der dich nicht abkann. Das ist Masochismus.
Wenn ihm nicht gefiel, was er sah … tja, vermutlich war er bereits genau zu diesem Schluss gekommen. Wahrscheinlich stand er auf große, sportliche, sonnengebräunte Blondinen.
Im Zimmer gab es keine Uhr, und meine Armbanduhr befand sich nicht mehr an meinem Handgelenk. Ich zog den schweren Vorhang zurück, um festzustellen, ob die Sonne schon aufgegangen war, doch die pechschwarze Finsternis draußen schien dem Feuer hinter mir das Licht zu entziehen. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Wie lange hatte ich geschlafen?
Ein Kratzen an der Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken.
Als ich auf wackeligen Knien zur Tür ging und sie einen Spalt weit öffnete, schob sich die bebende Schnauze der Wölfin hinein. Sie drückte immer weiter, bis sie ins Zimmer schlüpfen konnte, wo sie schwanzwedelnd aufs Bett sprang.Ein fast menschliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie sah mich auffordernd an.
»Ich lege mich nicht mehr ins Bett«, sagte ich.
Sie setzte sich mit dem Hintern genau auf mein Kopfkissen.
»Spitze, vielen Dank.« Ich nahm ein paar dicke Wollsocken und zog sie an. Dann hielt ich inne, weil ich nicht sicher war, ob ich das Zimmer verlassen durfte. Im nächsten Moment fragte ich mich, warum mich dieser Gedanke überhaupt beschäftigte.
Die Stille im Haus konnte man fast mit Händen greifen. Es war, als ob es gleichzeitig Tausende von Geschichten raunte, allerdings zu leise, um einzelne Wörter auszumachen. Unzählige Einzelgespräche, knapp außerhalb meiner Reichweite. Ich zitterte.
»Kommst du jetzt mit oder nicht?« Ich wies auf die Tür und ging Custos voran, ohne mich umzuschauen, wohlwissend, dass sie mehr sah, als ich anderen zeigen wollte.
Kapitel 6
Die Wandbeleuchtung im Flur war gedämpft. Meine Haut kribbelte, als wolle sie den Schatten entfliehen. Ein abgenutzter geblümter Teppich bedeckte den Boden genau in der Mitte und zog mich mit sich. Ohne Grund schlich ich auf Zehenspitzen wie eine Einbrecherin. Da ich mich beobachtet fühlte, blickte ich mich immer wieder um.
Vertäfelungen aus dunklem Holz schluckten die Ecken. Im Flur hingen Steppdecken in allen Formen und Größen. In den Falten krabbelten Spinnen, und die Simse waren mit einer Staubschicht bedeckt. Nirgendwo war eine Uhr in Sicht. Die Gemälde an den Wänden wurden teilweise von den Steppdecken verhüllt, so als sollten sie die Menschen darauf vor der winterlichen Kälte schützen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich immer wieder eine Bewegung, einen Schatten, der ständig hin und her zu springen schien, so dass ich ihn optisch einfach nicht zu fassen bekam. Ganz gleich, was es auch sein mochte, jedenfalls konnte ich den Kopf nicht schnell genug bewegen, um es mir gründlich anzusehen. Vielleicht war ich ja im Begriff, den Verstand zu verlieren.
Custos trottete lautlos und aufmerksam neben mir her.Ich fürchtete mich nicht mehr vor ihr. Sie hatte ein dichtes, karamellfarbenes Fell mit schwarzen
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