Meridian
»Was weißt du über Geschichte? Über Religion? Über Politik?«
Was für eine Frage. Die Schule? Was hatte denn die Schule damit zu tun?
»Ich bin eine gute Schülerin und habe, glaube ich, immer aufgepasst. Ich schreibe fast nur Einser.«
»Hmmm. Und du hast dich nie gewundert, warum du ständig von toten Tieren umgeben bist?«
»Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass sie spinnt.« Tensreichte mir eine Tasse. Für meinen Geschmack durchschaute er mich zu gut. »Richtig?«
Ich vergrub mich tiefer in Sofa und Steppdecke. »Bin es nicht ich …« – ich schluckte und zwang mich, die Frage zu stellen –, »… die sie umbringt?«
»Nein! Nein!« Meine Tante sprang auf und hätte fast ihren Tee verschüttet. »Am liebsten würde ich deine Mutter windelweich prügeln. Wie konnte sie dich in diesem Glauben lassen?«
»Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen.« Allerdings hatte ich mir zugegebenermaßen Gedanken gemacht. War meine Nähe zum Tod nicht eine zu wichtige Angelegenheit, um sie einfach totzuschweigen?
»Kennst du das thermodynamische Gesetz?«
»Man kann Energie weder erzeugen noch zerstören, sondern nur ihre Form verändern?«
»Richtig.« Sie war mit meiner Antwort zufrieden. »Weißt du, dass heiße Luft aufsteigt, während kalte Luft nach unten sinkt?«
»Schon.« Man mag mich für verrückt halten, doch mich erinnerte das stark an den Naturwissenschaftsunterricht in der Schule.
Sie schürzte die Lippen. »Hast du je eines der toten Tiere untersucht?«
»Ich habe sie zur Genüge gesehen.«
»Ja, aber hast du sie unter die Lupe genommen? Sie genau erforscht? Die Sache, die Leben schafft und einem Ding Gestalt einhaucht, nennt man Energie. Wenn der Körper – ganz gleich ob Mensch oder Tier –, also diese Hülle, der Kadaver stirbt, steigt die darin enthaltene Energie auf wie heiße Luft.«
Sie hielt inne, als warte sie auf meine Bestätigung.
»Du bist
nicht
der Tod. Du bringst
nicht
den Tod. Du hast
keinen
Einfluss darauf. Und du kannst das Schicksal auch
nicht
ändern. Natürlich kannst du lebensrettende Maßnahmen wie Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen. Doch wenn eine Seele bereit ist, aufzusteigen, wird sie sich weder von dir noch von mir daran hindern lassen.«
»Wenn ich nicht der Tod bin, was bin ich dann?«
»Du bist eine Fenestra, ein Fenster. Ein offenes Speicherfenster im höchsten aller Hochhäuser, durch das die Lebensenergie in die reinste und bestmöglichste Welt hinausfliegt.«
»Du bist die Tür zum Paradies, zum Jenseits, Supergirl.« Tens stopfte sich eine Handvoll Nussmischung in den Mund und kaute. Seine seelenruhige Art ärgerte mich.
»Wer’s glaubt.« Da ich dachte, dass er mich auf den Arm nehmen wollte, schlug ich einen sarkastischen Ton an.
Tante Merry lächelte mir zu. »Du glaubst es also nicht?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist die beste Erklärung, die ich bis jetzt bekommen habe. Aber jetzt mal ehrlich: Würdest
du
dir selbst glauben?«
»Wahrscheinlich nicht.« Tens zuckte mit den Achseln.
»Warum habe ich noch nie von einer Fenestra gehört?«, erkundigte ich mich.
»Weil die Leute, die von ihnen erzählen könnten, nicht mehr leben?« Tens griff sich noch eine Handvoll Nüsse.
Ich verdrehte die Augen.
Die Tante pflückte einige Cashews aus der Nussmischung. »Wir stehen unter dem Schutz der Schöpfer und einer ganz besonderen Gruppe, die sich die Wächter nennt.«
»Aha. Bin ich jetzt ein Mensch oder ein Marsmännchen?«
Die Tante kicherte wie ein Schulmädchen. »Mars?«
»Du bist von der Venus, Supergirl, wusstest du das nicht?«, entgegnete Tens.
»Halt doch deinen Mund«, zischte ich. »Und fall mir nicht ständig auf den Wecker.«
Er zog eine braune Augenbraue hoch, schwieg aber.
»Alles Leben hat am selben Ort und bei demselben Schöpfer angefangen.«
»Gott?«
Tante Merry schmunzelte. »Die unterschiedlichen Kulturkreise haben viele Namen für ihn gefunden. Obwohl man sie kaum zählen kann, erfasst keiner von ihnen den Schöpfer oder die Schöpfer in ihrer Gesamtheit.«
Ich rieb mir die Schläfen. »Jetzt klingst du wie ein Zettel in einem Glückskeks.«
»Hier geht es nicht um Religion, sondern um etwas, das größer ist als menschliche Rituale. Wir wurden dazu geschaffen, die Seelen an einen Ort zu führen, der bei den Buddhisten Erleuchtung, bei den Christen Himmel und so weiter und so fort heißt.«
»Es geht immer um Religion.« Das wusste ich aus dem Geschichtsunterricht. Kriege, Völkermorde, sie alle ließen
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