Meridian
sich auf Glaubensfragen und die Tatsache zurückführen, dass viele Menschen keine andere Religion neben ihrer eigenen duldeten.
»Das mag sein. Doch die Fenestrae lassen sich keiner bestimmten Glaubensrichtung zuordnen. Dasselbe gilt für die Wächter, obwohl menschliche Helfer häufig sehr spirituell veranlagt sind. Übrigens auch für die Aternocti, aber die hängen dem Zerstörer an.«
»Allerdings werden die Leute dich trotzdem nicht leiden können«, stellte Tens mit finsterer Miene fest.
Ich wollte nachfragen, was er damit meinte, aber sein Gesichtsausdruck wirkte so abweisend und verschlossen, dass ich es nicht wagte. »Woher kommen sie?«
»
Wir
sind eine Mischung aus Engel und menschlicher DNA«, erwiderte die Tante.
»Was?«
»Früher wurde die Aufgabe von heiligen Engeln erledigt, die bei jedem Übergang anwesend waren. Doch als die Bevölkerung wuchs, genügte ihre Anzahl nicht mehr. Außerdem wurden sie auch für andere Dinge gebraucht, zum Beispiel, um das Gleichgewicht zu erhalten.«
»Du hast doch gesagt, dass Energie immer gleich bleibt.«
»Sie verändert zwar ihre Form, verschwindet jedoch nie und entsteht auch nicht neu. Wenn ein Lebewesen stirbt, ohne dass eine Fenestra oder ein Aternoctus dabei ist, tritt sie wieder in den Kreislauf ein.«
»Reinkarnation?«
»Ja.«
»Was sind denn diese Atersoundso?« Allmählich fühlte ich mich, als sei ich in eine Folge von
Krieg der Sterne
geraten.
»Das ist ein anderes Thema. Jedenfalls bringen sie die Seelen an einen Ort, wo es kein Licht gibt.«
»In die Hölle«, ergänzte Tens.
Tante Merry stimmte achselzuckend zu. »Einer Seele im Übergangsstadium erscheinst du als Licht. Als hellerleuchteter Tunnel.«
»Behaupte jetzt nicht, dass ›ins Licht gehen‹, wie man immer im Film zu sterbenden Menschen sagt, tatsächlichstimmt.« Das musste doch eine Sondersendung von
Lifetime
sein.
»In gewisser Weise. Auf andere Lebewesen wirkst du wie ein Mensch. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten leben wir genauso wie andere Menschen auch.«
»Was für Kleinigkeiten?«
»Allmählich wirst du dein Licht aus dem Augenwinkel erkennen, und manche Menschen bemerken es ebenfalls.«
»Jetzt bin ich auch noch ein Glühwürmchen.« Ich schüttelte den Kopf. »Was kommt als Nächstes?«
»Besitzt du Fotos aus deiner Kindheit?« Meine Tante formulierte das zwar als Frage, kannte die Antwort aber offenbar bereits.
Ich überlegte. Nein. Immer hatte es ein Missgeschick mit dem Film gegeben. Und wenn Klassenfotos gemacht wurden, hatten wir stets etwas anderes vor. Ich erinnerte mich an kein einziges Foto, auf dem ich abgebildet gewesen wäre. »Nein.«
»Das ist eine der Kleinigkeiten.«
»Apropos Familienfotos – warum diese Reise ins Nirgendwo wie in einem Agentenfilm? Wo sind meine Eltern?« Ich blickte zwischen meiner Tante und Tens hin und her. Ihren Mienen war zu entnehmen, dass sie sich das Geheimnis nicht entlocken lassen würden.
Das Schweigen dauerte an.
Also wiederholte ich die Frage. »Wo ist meine Familie? Wer ist hinter uns her?«
»Sie sind nicht hinter deinen Eltern her, sondern nur hinter dir«, erklärte Tens. »Die Aternocti jagen Fenestrae, bevor sie ihre wahren Fähigkeiten entwickeln können. Seid ihr in deiner Kindheit oft umgezogen?«
»Ja, Dad hat häufig die Stelle gewechselt.«
Tens schüttelte den Kopf. »Mag sein. Aber er hat es hauptsächlich deshalb getan, um dich bis zu deinem sechzehnten Geburtstag am Leben zu erhalten.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein, tut mir leid. Sie kamen wieder, kurz nachdem du das Haus verlassen hattest. Der Autounfall war nämlich gar kein Unfall, Meridian. Die beste Methode, eine Fenestra umzubringen, ist, eine menschliche Seele durch sie hindurchzuschleusen, ehe sie dazu bereit ist.«
Waren die Jugendlichen an der Unfallstelle meinetwegen gestorben? »Wie geschieht das?«
Wollte ich das wirklich wissen?
»Du musst noch einiges lernen«, mischte sich meine Tante ein. »Methoden, damit zurechtzukommen, die dir nur eine andere Fenestra beibringen kann. An deinem sechzehnten Geburtstag hat sich das Fenster ganz geöffnet. Und ab diesem Moment begannen die menschlichen Seelen, die hinübergehen müssen, dich wahrzunehmen. Bis dahin war dein Fenster nur einen Spalt offen, so dass lediglich Insekten und kleine Tiere hindurchpassten.«
»Was ist, wenn ich keine Fenestra sein will?«, hakte ich nach.
»Du
bist
eine.«
»Und wenn ich das Fenster schließe oder ein Schild mit der
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