Meridian
Minuten später war ich allein, trug gelbe Gummihandschuhe und betrachtete den Berg verkrusteter Töpfe und Pfannen.
Custos stand winselnd neben mir.
»Ich glaube, er will nicht reden, was sagst du dazu?«, meinte ich zu ihr, als sie sich neben mich setzte und sich an mich kuschelte. Als die Küche sauber war, hatte ich Rückenschmerzen, und mein Schädel pochte. Ich holte mir eine Schale Plätzchen und ein Glas Milch, um sie mit nach oben in mein Zimmer zu nehmen. Als ich Custos ein Plätzchen zuwarf, fing sie es in der Luft auf und lächelte. Auf dem Weg in mein Zimmer verirrte ich mich erst einmal. Nachdem ich es endlich gefunden hatte, sah ich meinen Kleiderstapel durch. Ich hatte Heimweh und vermisste meine Familie. Doch als ich einen Pullover nahmund ihn mir an die Nase hielt, roch er nicht mehr nach zu Hause.
Was zum Teufel geschah nur mit mir?
Wie sollte ich sie je wiederfinden?
Durfte ich das überhaupt?
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten schlief ich, ohne zu träumen.
»Frohe Weihnachten. Wo ist Tante Merry?«, gähnte ich, als ich in die Küche kam. Endlich fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Obwohl ich keiner war.
»Gut geschlafen, Supergirl? Ist Weihnachten ohne Weihnachtsmann in Ordnung für dich?« Mit einer Zange wendete Tens die Speckstreifen, die auf dem Herd schmurgelten. Offenbar war er ein erfahrener Hausmann. Ich hätte gedacht, dass Kochen unter seiner Würde war, aber er schien Spaß daran zu haben.
»Und wo ist meine Tante?«, wiederholte ich.
»Unterwegs.«
Ich setzte mich an den Tisch und beobachtete ihn. Er achtete nicht auf mich. Ich hätte genauso gut unsichtbar sein können.
»Gefällt es dir hier?«
»Ist ganz nett«, murmelte er.
Ich wartete ab, bis ich das Schweigen nicht mehr ertragen konnte. »Warum siehst du mich nicht an?«
»Gekränktes Ego?«, gab er zurück, ohne sich umzudrehen.
»Damit will ich nicht sagen, dass ich eine Schönheit bin. Doch du gehst mir aus dem Weg. Ich bin nicht ansteckend.«Erschrocken über diesen Gedanken, hielt ich inne. »O mein Gott, es
ist
ansteckend!« Offenbar spürte Tens die Angst in meiner Stimme, denn er kam und setzte sich neben mich.
Er zögerte, als wisse er nicht, wie er mich trösten sollte, beschloss jedoch dann, mich nicht zu berühren. »Du bist so geboren und hast dich nicht angesteckt«, begann er. »Ich habe meine Gründe, die alle nichts damit zu tun haben, dass du eine Fenestra bist. Und jetzt trink deinen Orangensaft. Er ist frisch gepresst.« Er floh, um mir ein Glas einzuschenken.
»Frisch gepresst?«, schnaubte ich höhnisch. »Welcher Mann presst denn Orangen aus?«
»Erzähl mir jetzt nicht, du glaubst das Klischee, dass echte Männer sich ausschließlich von kalten Dosenbohnen ernähren.«
»Nur die, die hetero sind.« Mein Grinsen erinnerte eher an ein Zähnefletschen. Er reagierte nicht. »Frisch gepresst, was?« Ich nahm einen Schluck. »Lecker.«
Tens servierte mir Rührei, ein getoastetes Brötchen, zwei Frühstückswürstchen und Speck. »Iss auf. Deine Tante hat dir Lektion Nummer eins hiergelassen.«
Der Geruch des Essens drehte mir den Magen um. »Ich mag kein Frühstück.«
»Du musst etwas essen.«
»Ich frühstücke nie. Wirklich nicht. Wenn ich das jetzt esse, kotze ich dir nur vor die Füße.« Selbst wenn ich hungrig gewesen wäre, reizte sein besserwisserischer Ton meinen Widerspruchsgeist.
Ein gekränkter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er ließ das Spülbecken volllaufen und fing an, die Bratpfanne zu schrubben.
Ich schloss die Augen und fragte mich, seit wann ich angefangen hatte, mich in eine Megäre zu verwandeln. »Es tut mir leid.«
»Schon verstanden«, knurrte er.
»Wirklich? Ich verstehe mich nämlich selbst nicht mehr. Eigentlich bin ich nicht so zickig, aber du machst mich einfach sauer.«
Er spülte weiter die Pfanne, die inzwischen sicher längst sauber war. »Du fühlst dich in die Ecke gedrängt. Außerdem habe ich dir ziemlich zugesetzt.«
Ich trank noch etwas von dem Saft und ließ den süßsauren Geschmack im Mund zergehen. »Ja, stimmt. Warum magst du mich nicht?«
Er hielt inne, starrte aber aus dem Fenster, anstatt mich anzusehen. »Es stimmt nicht, dass ich dich nicht mag.«
»Selten so gelacht.«
»Hör zu, ich …« Er brach mitten im Satz ab und holte tief Luft. »Wenn du nicht kannst … Wenn du nicht …«
Atemlos wartete ich ab, voller Furcht, ihn so zu erschrecken, dass er wieder verstummte.
Tens schüttelte den Kopf, als habe er
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