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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Anschließend schlug ich die Augen auf und stellte fest, dass Tens mich beobachtete. Sein Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass mir das Blut ins Gesicht strömte und ich rote Ohrenspitzen bekam. »Okay, ich bin fertig.« Ich stand auf und streckte meine verspannten Muskeln.
    »Bist du sicher?«
    »Ob ich sicher bin, dass ich lange genug ein Fenster visualisiert habe? Ja, mir reicht es.«
    »Gut, dann warte hier.«
    »Was?«
    »Es gibt noch mehr zu tun. Ich bin gleich zurück.«
    Er ging hinaus. Ich hörte, wie er etwas brummte und das Haus verließ.
    Ich saß auf dem Sofa und blätterte ein altes Fotoalbum durch, als er mit einem Bündel Lumpen hereinkam. »Was ist das?«
    »Lektion Nummer zwei. Kleine Kaninchen. Hilf ihnen beim Übergang.« Das sagte er so sachlich, dass ich erst glaubte, mich verhört zu haben.
    »Was?« Ich erstarrte.
    »Custos hat sie heute Morgen gefunden. Die Mutter war bereits erfroren.«
    »Und du willst, dass ich …« Das musste ein grausamer Scherz sein. Meine Tante konnte ihn doch unmöglich aufgefordert haben, mir verwaiste Kaninchen zu überreichen, damit ich sie tötete.
    »Visualisiere das Fenster.«
    Ich wich in die Sofaecke zurück. Der Geruch von Kaninchenurin und -kot breitete sich im Raum aus. »Offenbar meinst du es wirklich ernst. Es sind tatsächlich Kaninchen da drin.«
    »Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich Scherze mache?« Er schlug einen Stoffzipfel zurück und gab den Blick frei auf vier hübsche, braune kleine Kaninchen mit weißen Pfötchen und einer weißen Blesse auf der Stirn.
    Der Anblick brach mir fast das Herz. Sie sahen aus wie mein Lieblingsstofftier. »Du bist doch krank im Kopf. Ich weigere mich.« Ich sprang auf, um Abstand zwischen uns zu bringen.
    Tens legte das Lumpenbündel vor mich hin. »Du brauchst nichts zu tun.«
    »Du verlangst, dass ich sie sterben lasse. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Nur damit ich etwas zum Üben habe.« Warum schien ihn das nicht zu belasten?
    »Es sterben doch ständig Tiere in deiner Nähe. Sie werden sowieso eingehen.«
    »Nicht, wenn ich etwas dagegen tun kann. Ich werde nicht tatenlos danebenstehen und zuschauen. Und ihnen beim Sterben helfen werde ich schon gleich gar nicht.« Ich rannte den Flur entlang in die Küche. Tens folgte mir auf den Fersen.
    »Was hast du vor?«
    »Ich suche Milch. Kondensmilch, Sahne, irgendetwas.« Ich riss Schränke auf und schob Dosen hin und her.
    »Hör auf, Meridian!« Tens verharrte auf der Türschwelle und hielt Abstand, als hätte ich die Tollwut.
    »Nein, ich sehe nicht einfach zu, wie sie sterben.« Endlich ent deckte ich eine Dose Kondensmilch ganz hinten in einem Schrank, riss den Deckel auf und griff nach einem Löffel.
    »Es wird nichts nützen.«
    »Woher willst du das so genau wissen?«
    Er stand auf der Schwelle und versperrte mir den Weg. »Ich weiß es eben.«
    »Mach Platz!« Ich versuchte, ihn wegzuschieben, doch Tränen verschleierten mir den Blick.
    Er packte mich an den Schultern. Es war das erste Mal seit der Nacht meiner Ankunft, dass er mich berührte. »Meri dian.« Seine Stimme zitterte, und kurz klang es, als würde er ebenfalls gleich zu weinen anfangen.
    »Was ist?« Ich wusste, dass ich mich wie ein trotziges Kleinkind anhörte, war aber machtlos dagegen.
    »Du brauchst eine Pipette. Zweite Schublade unten neben dem Herd«, flüsterte er sanft und drehte mich herum. Ich wusste nicht, warum er mich nicht mehr an meinem Vorhaben hinderte, wollte aber nicht nachfragen.
    Ich nahm die Pipette und duckte mich unter seinem Armdurch. Im Wohnzimmer versuchte ich vergeblich, das Bündel hochzuheben, während ich gleichzeitig die Milchdose und die Pipette in der Hand hatte.
    Tens erschien neben mir. »Wo soll ich sie hinlegen?«
    »Vor den Kamin.«
    Mir fiel auf, wie liebevoll er die kleinen Kaninchen in den Arm nahm und sie vor den Kamin auf den Teppich setzte. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und griff nach dem ersten. Sein winziges Körperchen ließ meine Hand riesig wirken. Ein kleines Fellbündel mit schwachem Herzschlag. »Komm, Kleines, friss. Du musst etwas fressen.« Ich träufelte einen Tropfen Milch auf sein Maul, aber es öffnete sich nicht. Tränen traten mir in die Augen und liefen mir über die Wangen.
    Ich versuchte, die Milch in das geschlossene Mäulchen zu zwingen, kniete auf dem Boden und beugte mich über das Tierchen, als könnte ich durch meine Körperhaltung seinen Lebenswillen wecken.
    Tens saß hinter mir und lehnte sich an einen

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