Meridian
während Custos die Hühnchen verspeiste. Nichts blieb von ihnen übrig, und ich hatte es tatsächlich geschafft. Wenn auch nur mit Müh und Not. Ich war zwar erschöpft, hatte mich aber nicht übergeben müssen. Auch mein Nacken schmerzte nicht, was verglichen mit den Kaninchen ein Fortschritt war. Die beiden Hennen befanden sich nun wohlbehalten auf einer idyllischen Wiese auf der anderen Seite.
Tante Merry war noch bei der Nachbarin, und ich konnte es kaum erwarten, ihr von meinen Fortschritten zu berichten. Dass Custos frisches Fleisch brauchte, war etwas völlig anderes als das Sterben von Tierbabys. Nachdem ich ein Glas Saft getrunken hatte, schlenderte ich durchs Haus.
Als das grässliche Scheppern des Telefons erklang, machte ich vor Schreck einen Satz. Ich ging nicht an den Apparat, in der Hoffnung, Tens würde rechtzeitig zurückkommen. Nach einer Weile hörte das Läuten auf.
Ich griff nach einem Foto in einem schweren Silberrahmen. Es stellte meine Tante und einen mir unbekannten Mann dar. Beide lächelten.
Wieder klingelte das Telefon. Fünfzehn Mal. Ich zähltemit, während ich aus dem Fenster sah und Ausschau nach Tens hielt. Endlich hörte es auf.
Nach fünf Minuten begann es erneut. »Mist.« Nach dem zwölften Läuten hielt ich es nicht mehr aus und stellte mich vor den Apparat.
Das Telefon verstummte, doch als ich mich gerade abwenden wollte, fing es schon wieder an.
Ich holte tief Luft und hob ab. »Hallo?«
»Meridian.«
Ich erkannte die blecherne Computerstimme nicht.
Ein Mann?
»Wer spricht da?« Die Angst schnürte mir die Kehle zu.
»Wir beobachten dich. Tick, tock.«
»Wer spricht da?«
»Wir warten auf dich in der Dunkelheit. Tick …«
Ich knallte den Hörer hin und versuchte, meinen Atem und meinen Herzschlag zu beruhigen.
Tens kam herein, ließ Handschuhe und Jacke auf den Boden fallen und eilte auf mich zu. »Was ist passiert?«
»Das Telefon.«
»Wer war dran?«
»Keine Ahnung.«
Ich beantwortete noch immer Tens’ Fragen, als meine Tante nach Hause kam. »Ich weiß es nicht«, wiederholte ich ein ums andere Mal.
Tante Merry tätschelte mir die Hände, während Tens ihr den Vorfall schilderte. Sie nickte. »Ich verstehe. Das deckt sich mit dem Gerücht, das ich von Winnies Tochter gehört habe. Meridian, du bist in unruhigen Zeiten in diese Stadt gekommen. Diese Kirche …«
»Es ist eine Sekte«, unterbrach Tens, »keine Kirche.«
Die Tante fuchtelte mit den Händen. »Der Anführer, Reverend Perimo, hat ein sehr charismatisches und überzeugendes Auftreten. Er nennt seine Organisation die Kirche der Reinheit und Erlösung, versucht mit Hilfe des Alten Testaments die Uhr des Fortschritts zurückzudrehen und hilft den Menschen dabei, für ihre Nöte einen Sündenbock zu finden.«
»Muss ein reizender Zeitgenosse sein«, erwiderte ich.
»Hast du auf der Fahrt in die Stadt die Schilder gesehen?«
»
Das
ist er?«, fragte ich. »Der Typ sieht aus wie ein Filmstar nach einer Schönheitsoperation. Und so etwas ist Geistlicher?«
Tens verzog das Gesicht. »Wenn man den Begriff sehr breit fasst.«
Tante Merry seufzte. »In seiner Weihnachtspredigt ging es darum, in der Stadt gründlich aufzuräumen. Er hat gedroht, Gottes Zorn würde Außenseiter und Ungläubige treffen. Bis zum Dreikönigsfest müssten alle Sünder und Unreinen vertrieben sein. Außerdem macht er den Leuten weis, das Jüngste Gericht würde in Revelation beginnen. Diese Behauptung stützt er mit Zeichen, die er auf geheimnisvolle Weise voraussagen kann. Das Dreikönigsfest ist der neueste Termin, der ihm von oben durchgegeben wurde.«
»Wann ist das, am sechsten Januar? Also schon sehr bald. Meinen die das ernst?«
Sie setzte sich und griff nach ihrem Nähzeug. Sie sprach, ohne auf mich zu achten, wobei ihre Finger wie ein Roboter die Nadel bewegten. »Am sechsten Januar ist Jesus angeblich getauft worden. Nimmt man noch den Jahreswechsel dazu, handelt es sich um eine bedeutungsschwere Zeit.Letzte Woche wurde das Vieh der Hansons vergiftet. Sie haben die halbe Herde verloren, und das ist nur der jüngste Unglücksfall. Perimo hat eine Gebetsliste all der Personen aufgestellt, deren Seelen am meisten gefährdet sind. Rate mal, wer wegen heidnischer Praktiken und Hexerei ganz oben steht.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Tens stieß sein Messer in den Boden.
»Du?«, fragte ich.
Sie nickte. »Es gibt viele, die uns den Tod wünschen. Ob es nun Menschen sind oder nicht.«
»Sind wir denn
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