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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Stuhl. Nach einer Weile zog er mich an sich. »Sie waren schon zu lange da draußen, Meridian. Ihre Mutter war bereits kalt. Sie sind noch nicht entwöhnt.«
    Mit geschlossenen Augen kauerte ich da, streichelte die Kaninchen und hoffte, meinen Wunsch, dass sie weiterleben sollten, auf sie übertragen zu können. Doch im Innersten meines Herzens wusste ich, dass keines von ihnen fressen würde.
    Tens fühlte sich stark und warm an. Das Kaminfeuer erhitzte mein Gesicht und brachte meine Wangen zum Glühen. Mit jedem Atemzug stieg mir Tens’ Duft nach Fichtennadeln, Erde und einem männlichen Gewürz in dieNase. Wenn ich schnupperte, konnte ich auch Custos’ Geruch an ihm wahrnehmen.
    Das Feuer brannte herunter. Die Flammen wurden kleiner, bis sie nur noch Glut waren. Doch Tens rührte sich nicht und sagte auch nicht, ich hätte es jetzt lange genug versucht.
    Plötzlich spürte ich ein leichtes Zittern, eine winzige Veränderung in der Energie. Ich tat, was meine Tante mir aufgetragen hatte, öffnete ein Fenster in meinen Gedanken und stellte mir vor, wie ich auf der irdischen Seite blieb. So saß ich da und hielt das kleine Kaninchen im Arm, bis es kalt war. Dann nahm ich das nächste und das übernächste. Nach einer Weile waren alle tot.
    »Sie leben nicht mehr.« Tens strich mir das Haar aus den Augen. »Es tut mir leid.«
    Ich legte sie zurück in ihr Lumpenbündel. »Warum bist du auf einmal so nett zu mir?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, wie es ist, einen aussichtslosen Kampf zu führen.«
    »Was meinst du damit?«
    Er antwortete nicht. »Fühlst du dich krank?«, fragte er stattdessen. »Kopfschmerzen? Brechreiz?«
    Ich schloss die Augen und versuchte durchzuatmen, während mir die Galle in der Kehle hochstieg. »Alles in Ordnung«, log ich. »Ich bin ein bisschen traurig, aber sonst geht es mir gut.«
    »Bist du sicher? Du bist nämlich ein wenig grün im Gesicht. Blasser als gewöhnlich und eindeutig grün.«
    »Nein, alles bestens.« Ein Würgereflex drohte.
    Er seufzte, als sei meine Antwort von größter Wichtigkeit. »Das ist gut. Richtig?«
    Ich war kurz davor, mich zu übergeben. Aber ich wollte nicht kotzen. Ich wollte jetzt
wirklich
nicht kotzen. Also atmete ich tief durch, um die Übelkeit zu vertreiben.
    Offenbar glaubte mir Tens. »Wird dir denn nicht schlecht? Hast du keine Schmerzen und so? Das hat deine Tante wenigstens angekündigt.«
    Also bestand ein Zusammenhang zwischen den Schmerzen, den Krankheiten und der Tatsache, dass ich eine Fenestra war. Ich war also doch keine eingebildete Kranke. Rasch sprang ich auf, um es rechtzeitig ins Bad zu schaffen.
    »Meri…«
    Ich hastete zu einer riesigen Vase hinüber, beugte mich vor, kotzte die Plätzchen von gestern Abend aus und würgte, bis nichts mehr da war.
    »Hier.« Tens half mir, mich hinzulegen, und holte einen feuchten Lappen aus dem Bad, um mir das Gesicht zu kühlen. »Offenbar müssen wir noch viel üben, was?« Er schob einen Ohrensessel neben das Sofa und ließ sich auf der Kante nieder.
    In diesem Moment fühlte ich mich wie in einem Aufzug, der den Schacht hinunterstürzt; es war ein schwereloser freier Fall, der jedoch nur eine knappe Sekunde andauerte.
    »Es geht mir gut«, beteuerte ich, als ich bemerkte, dass er mich beobachtete.
    »Das hast du vorhin auch behauptet.«
    »Ich weiß. Aber ich brauche Platz.«
    »Gut.« Tens hob die Kaninchen auf.
    »Was machst du mit ihnen?«, fragte ich.
    »Ich werde sie begraben. Anschließend rufe ich Custos. Und dann habe ich die nächste Aufgabe für dich.«
    »Was?«
    »Custos bekommt heute Hühnchen zum Abendessen. Ich werde die Hennen schlachten, du hilfst ihnen beim Übergang, und Custos frisst sie.«
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
    »Bist du Vegetarierin?«
    Der Gedanke erschien mir zunehmend verlockender. »Nein, aber …«
    »Sie auch nicht. Du musst an Tieren üben, Meridian. Bevor …«
    »Ich weiß, doch …«
    »Wir treffen uns in einer Minute draußen, okay?«
    Natürlich hatte er recht. Schließlich aß ich selbst Hühnchen. Also musste ich wenigstens in der Lage sein zuzuschauen, wenn er eines schlachtete. »Wie?«
    »Wie was?«
    »Wie willst du, du weißt schon …«
    »Ich breche ihnen das Genick. Das geht schnell. Du wirst dich also beeilen müssen.«
    Ich nickte. »Gib mir ein paar Minuten, einverstanden?«
    »Warte nicht zu lange. Es wird ganz leicht.«
    Leicht? Wollte er mich auf den Arm nehmen?

Kapitel 10
     
     
    Tens machte draußen sauber,

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