Meridian
eine innere Debatte verloren. »Ich zwinge dich nicht zum Essen. Falls du mit dem Saft fertig bist, möchte ich dir etwas von deiner Tante geben. Aber es ist kein Geschenk.«
»Egal.«
Ein lautes Geschepper ertönte, als sei der Eisenmann in einen Haufen aus Töpfen und Pfannen gefallen. Ich sprang auf. »Was war das?«
Kichernd trat Tens auf den Flur hinaus. »Nur das Telefon. Die Tante hat mich gebeten, es lauter zu stellen, damit sie es überall im Haus hört.«
»Wahrscheinlich hört man es bis Alaska.« Ich folgte ihm.
»Hallo.« Sein Körper verspannte sich, als er sich den Hörer ans Ohr hielt. Ich konnte fast sehen, wie sich seine Muskeln sprungbereit zusammenzogen. »Antworten Sie!« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Jetzt passen Sie mal gut auf, Sie Stück Scheiße. Lassen Sie uns in Ruhe.« Tens knallte den Hörer hin und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Wer war das?«
»Ein Telefonverkäufer.«
»Ach, wirklich?«
Er seufzte auf. »Nein, die Tante erhält seit einiger Zeit anonyme Anrufe. Die Leute hängen auf oder keuchen ins Telefon. Manchmal rezitiert eine Roboterstimme Bibelverse. In letzter Zeit kommen die Anrufe häufiger.«
»Bestimmt Jugendliche.«
»Vielleicht.«
»Du glaubst es also nicht?«
»Nein.«
»Oh.« Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er die Frage beantworten würde. »Wer steckt dann dahinter?«
»Egal. Es ist Zeit, dass du mit der ersten Lektion beginnst.«
»Wo ist die Tante denn hingefahren?«
»In die Stadt, um Lebensmittel und Nähgarn zu kaufen, bevor die Läden bis zum Jahresende schließen.«
»Warum haben wir sie nicht begleitet? Weshalb bist du nicht mitgefahren? Die Straßenverhältnisse sind doch seit gestern sicher nicht besser geworden.«
»Sie hat mich angewiesen, hierzubleiben. Bei dir.«
Eine unausgesprochene Anklage schwang in seinen Worten mit.
Ich nickte.
Tens seufzte. »Hör zu, es gibt da einiges, was du nicht weißt.«
»Also raus mit der Sprache«, meinte ich.
»Ich habe versprochen, dir nichts zu verraten, bis deine Tante findet, dass du bereit dafür bist. Aber ich denke, du solltest gewappnet sein.«
»Gewappnet? Bei dir klingt das, als würden wir in den Krieg ziehen.«
»In den letzten Monaten hat sich der Konflikt mit einer hiesigen Sekte zugespitzt, die sich als gewöhnliche evangelika lische Gemeinde ausgibt. Der Geistliche dort versteht sich ausgezeichnet darauf, die Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Und wer die Welt nicht mit seinen Augen sieht, hat bei ihm nichts zu lachen.« Stirnrunzelnd hielt Tens inne. »Es konnte natürlich auch etwas anderes sein.«
»Was denn?«
»Habt ihr zu Hause komische Anrufe bekommen?« Offenbar kannte er die Antwort auf diese Frage bereits.
»O mein Gott, bitte nicht! In den Wochen vor meinem Geburtstag wurden es immer mehr. Meine Mom ist total ausgerastet.« Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
»Die Aternocti machen Jagd auf dich. Sie wissen, wo deine Tante wohnt.«
»Also auch, wo ich bin.« Ich schloss die Augen.
»Das ist meine Vermutung. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich verhindern soll, dass sie uns schaden.«
»Oh.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sag ihr nicht, dass ich es dir verraten habe. Und sei vorsichtig, okay? Halt die Augen offen.«
Eine religiöse Sekte. Die Abgesandten des Teufels. »Will mir vielleicht noch jemand ans Leder?«, erkundigte ich mich, nur halb im Scherz.
Tens blieb ernst. »Ich bin nicht sicher.« Als er mich eindringlich ansah, spürte ich ein seltsames Kribbeln im Magen. Ich wollte den Blick nicht abwenden und wusste genau, dass ich für Tens ganz und gar nicht unsichtbar war. Ich hatte eher den Eindruck, dass er mich durchschaute, eine Erkenntnis, die mich sehr nervös machte.
Der Landrover bog in den Hof ein.
»Sie ist zurück«, stellte ich fest.
Tens schlüpfte in eine Daunenjacke und polterte zur Tür hinaus, um meiner Tante zu helfen. Ich fragte mich, ob er in der Lage war, irgendetwas zu tun, ohne dabei Radau zu veranstalten. Während er die Lebensmittel, immer drei oder vier Tüten auf einmal, ins Haus brachte, packte ich sie aus.
»Lass das Trockenfleisch und das Trockenobst in den Tüten, okay?«, sagte er.
»Wie du meinst«, erwiderte ich. Glaubte er etwa, ich würde mitten in der Nacht getrocknetes Fleisch oder Bananenchips naschen?
»Hallo, Kleines. Gut geschlafen?« Tante Merry streifte mit den Lippen meine Wange. Ein Hauch frisch gemähte Wiese und Apfelblüten stieg mir in
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