Meridian
die Nase.
»Ja danke.«
Sie wandte sich an Tens. »Ich habe ein Gespräch zwischenPeggy und Ruth belauscht. Winnie, eine andere Nachbarin, hat Lungenentzündung. Ich werde sie besuchen und sehen, ob ich etwas für sie oder für die Familie tun kann. Es ist so schwer für die Hinterbliebenen, wenn sich die Sterbenden ausgerechnet die Feiertage aussuchen.«
»Gut.« Tens musterte sie eine Weile. Ich konnte sein Schweigen nicht deuten.
Meine Tante schüttelte nachdenklich den Kopf, als stiege sie aus einer Wette aus. »Hast du gefunden, worum ich dich gebeten hatte?«
»Ja, es liegt für dich bereit.« Mit verschränkten Armen lehnte er sich an die Anrichte und verbreitete eine Atmosphäre banger Erwartung.
»Der Zeitpunkt passt bestens. Komm.« Sie tätschelte mir die Wange und zog mich hinter sich her ins Wohnzimmer.
Kapitel 9
»Du musst üben, dein Fenster ganz bewusst zu öffnen. Um das zu bewerkstelligen, ist Visualisieren die beste Methode. Wenn du daran glaubst, dass die Seele mühelos durch dich hindurchströmen kann, wird sie es vermutlich auch tun. Du wirst ein achtsames Leben führen müssen. Setz dich«, befahl sie und wies auf einen Lehnsessel.
Voller Furcht vor dieser ersten Unterrichtsstunde, kauerte ich auf der Sesselkante.
Was ist, wenn mir die Begabung fehlt?
»Es sterben doch ständig Tiere um mich herum. Wo also liegt das Problem?«
»Du fühlst dich krank, weil sie sich durchgezwängt und sich mit deiner Energie verheddert haben. Wenn man der Seele keinen Ausgang freilässt, fügt sie einem Schmerzen zu. Der Trick ist, ihr die Vorfahrt zu gewähren und nachzugeben. Seit deinem sechzehnten Geburtstag können alle Seelen, ganz gleich welcher Größe, dich spüren – insbesondere die der Menschen. Und ehe du nicht in der Lage bist, deine eigene Energie zu steuern und das Fenster selbst zu öffnen und zu schließen, schwebst du in Gefahr.« Sie strich mir über die Locken.
Tens stand in der Tür und beobachtete uns.
»Mach die Augen zu. Welche Jahreszeit hast du am liebsten?«, fragte sie.
»Den Sommer.«
»Gut, dann möchte ich, dass du dir ein offenes Fenster vorstellst. Eine leichte Brise weht, die die Hitze der Sonne vertreibt. Du willst diese Brise spüren, damit sich die Energie so schnell wie möglich verteilt. Verstanden? Welche Farbe haben die Vorhänge?«, erkundigte sie sich.
»Vorhänge?« Ich machte ein Auge auf.
»Denk dir Vorhänge an das Fenster. So wird es echter. Die Realität speist sich aus Einzelheiten. Vergiss das nie.« Sie hielt mir die Augen zu.
»Gut. Sie sind aus weißer Spitze.«
»Ausgezeichnet. Die Vorhänge rascheln in der Brise. Es ist ein großes Fenster mit Blick auf … ?« Sie beendete den Satz nicht.
»Oh. Einen Sonnenuntergang.«
»Also ein Sonnenuntergang. Stell dir vor, dass du dich in dem Raum mit dem Fenster befindest. Allerdings bist du weit genug vom Fenster entfernt, dass du die Brise nicht spürst. Du liebst dieses Zimmer. Du bist so glücklich darin, dass du es gar nicht mehr verlassen möchtest. Was auf der anderen Seite des Fensters ist, nämlich die Aussicht, wird von der Seele bestimmt, die durch dich hindurchgleitet. Lass dich einfach in das hineinfallen, was du siehst, und sträub dich nicht.«
Ich dachte an mein Zimmer zu Hause. Dort war ich geborgen gewesen. »Okay.«
»Jetzt konzentrier dich auf das Fenster und darauf, im Zimmer zu bleiben. Der Platz reicht, um hinauszuschweben, es ist ein großes Fenster, aber dir genügt es, den Sonnenuntergang von dort zu sehen, wo du gerade stehst.«
Ich kam mir vor wie in einer Science-Fiction-Serie. »Okay.«
»Erhalte dieses Gefühl aufrecht, bis Tens dir sagt, dass du aufhören sollst. Ich darf nicht bleiben, da meine eigene Macht sonst verhindern würde, dass du deine nutzt. Stattdessen werde ich meiner Nachbarin einen Besuch abstatten. Winnie war mir viele Jahre lang eine gute Freundin. Morgen wird sie nicht mehr am Leben sein.«
»Kann ich nicht mitkommen?« Als ich wieder die Augen öffnete, hielt sie sie mir erneut zu.
»Nein, du bist noch nicht bereit. Du musst klein anfangen. Ich fürchte, Winnie könnte sich deiner bemächtigen und nicht mehr loslassen. Zum Abendessen bin ich zurück. Beobachte weiter das Fenster, bis Tens glaubt …«
»Ich bin ganz brav.« Ich hatte den Verdacht, dass ich hier sitzen bleiben musste, bis sie wiederkam, wenn ich auf ihn hörte.
Nach einer Weile sprang der Landrover an und entfernte sich. Ich zählte bis zehn. Dann noch einmal.
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