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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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geht es dir besser, wenn ich dabei bin. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Vermutlich suchen sich die Seelen mich aus, weil ich ihnen den Übergang leichter mache, so dass sie nicht mehr alle auf dich einprasseln. Sobald du Zutrauen zu deiner Fähigkeit gewinnst, wird dein Körper kräftiger werden. Vielleicht wächst du sogar noch ein paar Zentimeter. Ich war früher fast eins siebzig. Kaum zu glauben. Im Alter schrumpft die Wirbelsäule.«
    »Also sind immer kleine Seelen durch mich hindurch gegangen?«
    »All deine Beschwerden haben ihren Grund darin, dass entschwindende Energien Löcher in dich hineinbohren, um sich hindurchzuzwängen. Wenn ich in der Nähe bin, wählen sie den einfacheren Weg: mich.«
    Daher also die Kopfschmerzen.
»Aber …«
    »Sobald du gelernt hast, auf dieser Seite zu bleiben, kannst du dein Fenster immer geöffnet halten wie ich. Du wirst einen Punkt erreichen, an dem es schmerzlos, ganz leicht und sozu sagen zur zweiten Natur wird. Du wirst bemerken, wenn eine Seele übergeht, weil du in diesem Augenblick ihren Himmel siehst und ein wenig über ihr Leben erfährst. Allerdings wird es eher sein wie die Vorschauzu einem Film – einfach nur eine Momentaufnahme ihrer Vergangenheit, die sie mit dir teilt.«
    »Oh.« Ich war zu müde, um die vielen Informationen zu verarbeiten. Das Feuer flackerte. Tens verharrte weiterhin abwartend auf der Stelle.
    Unvermittelt stand Tante Merry auf. »Lust auf ein paar Schokokekse?«, fragte sie. »Ich habe Appetit darauf.« Mit diesen Worten verließ sie, vor sich hin murmelnd, den Raum.
    »Danke, Schokolade ist jetzt eine gute Idee.«
    Ich schloss die Augen und ließ mich in die Umarmung der Polster sinken. Alles war so verwirrend.
    Tens wartete noch immer reglos und schweigend.
    »Was ist?«, erkundigte ich mich, ohne die Augen zu öffnen.
    »Nichts.« Er kam näher und räusperte sich. »Brauchst du … äh … Hilfe mit deinen Klamotten? Oder soll ich deine Tante bitten, das zu übernehmen?« Er klang so verunsichert und hilflos.
    Ich errötete leicht. Doch meine Glieder waren schlaff vor Erschöpfung, so dass ich mich kaum bewegen konnte. »Bitte.«
    Vorsichtig schlug er die Decke zurück und griff nach dem Saum meines Hemds und meines Pullis.
    Offenbar erbleichte ich angesichts dieser vertraulichen Geste, denn er meinte: »Ich weiß, wie Mädchen aussehen. Aber wenn du willst, mache ich die Augen zu. Natürlich erhöht sich in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit, dass ich die falschen Stellen berühre.«
    Ich öffnete ein Auge und stellte fest, dass er schüchtern lächelte. Dann hob ich die Arme, damit er mir die Sachen über den Kopf ziehen konnte.
    Als er mir die aufgeknöpfte Pyjamajacke reichte, wünschte ich zum ersten Mal im Leben, sie hätte aus Satin oder aus Spitze bestanden – jedenfalls aus einem eleganteren und damenhafteren Material als aus mit Sponge Bob bedrucktem Stoff. Sammy hatte mir den Pyjama als Scherz zum letzten Weihnachtsfest geschenkt; es war ein unbeschreiblich weicher Flanell. Anschließend öffnete ich meine Skihose. Tens hievte mich auf die Füße. »Heb die Hüften an.«
    Als ich es tat, schob er mir den Nylonstoff die Beine hinunter. Nachdem er mir langsam und vorsichtig die Hose abgestreift und sie mit dem Sponge-Bob-Unterteil vertauscht hatte, ließ er es mich selbst bis ganz nach oben ziehen. Das Mädchen in mir dachte daran, dass noch nie ein Junge so viel von meiner Haut gesehen hatte.
    Tens blieb am Fuß des Sofas sitzen und strich mit den Fingern geistesabwesend über meine Knöchel, als müsse er sich selbst vergewissern, dass alles in Ordnung sei.
    Als meine Tante mit einem Tablett mit Milch und Schokokeksen hereinkam, stand er vom Sofa auf.
    Ich aß einen Keks, der wirklich lecker schmeckte. Während Tante Merry sich auf einem Schaukelstuhl am Kamin niederließ, verschlang Tens drei Kekse und wühlte dann in seinem Korb mit Werkzeugen und Holzstücken herum.
    Vielleicht sah ich ja zu viel fern, doch ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. »Tante?« Ich wusste nicht, wie ich mich ausdrücken sollte und ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.
    Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und griff nach ihrem tragbaren Stepprahmen. »Was ist?«
    »Sind Fenestrae … sind wir Hexen?«
    »Du meine Güte, bei Gabriel, nein!«
    »Und diese Atersoundsos?«
    »Die Aternocti? Nein, nicht im eigentlichen Sinne.« Sie hielt einige Stücke Baumwollstoff aneinander, verschmähte eines und entschied sich für ein anderes.

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