Meridian
gelingt es nicht. Sosehr ich es auch versuche, die Worte wollen mir nicht über die Lippen. Allmählich glaube ich, dass es mir nicht zusteht. Ich bin kein Medium, nur ein Fenster.
18. Oktober 1931
Ich werde von jemandem verfolgt. Ich darf nicht vergessen, dass Atlantis, die Azteken, die Druiden, Gede und die Osterinseln alle von den Aternocti vernichtet wurden. Die Energie dieser Orte und die Menschen sind fort, weil es nicht genug Kriegerengel und zu wenige Fenestrae gab, um die ganze Welt zu versorgen. In jenen kurzen Momenten des Übergangs tobt die Schlacht zwischen Gut und Böse. Wenn sie es schaffen, die Energie an sich zu reißen, nimmt die Dunkelheit zu, und das Gute auf der Welt schwindet. Ich habe Gerüchte gehört, die Aternocti hätten in Europa schrecklich an Macht gewonnen. Ich muss dorthin, wo ich gebraucht werde. Vielleicht fahre ich ja nach Europa, um so viele Seelen zu retten, wie ich kann. Ich wünschte, ich hätte eine Schwester-Fenestra, die mir einen Teil der Last abnimmt.
Wenn die Tante schon so empfunden hatte, wie konnte es da Hoffnung für mich geben? »Um so viele Seelen zu retten, wie ich kann.« Wie sollte ich das je zustande bringen? Noch vor ihrem Tod? Niemals hatte ich mich so allein gefühlt.
Der beste Weg, eine Fenestra zu erkennen, ist ihr Geburtsdatum. Sie muss ihren ersten Schrei am 21. Dezember um Punkt Mitternacht ausgestoßen haben. Während unsere Angehörigen für gewöhnlich am 20. oder am 22. Dezember Geburtstag haben, kommt eine Fenestra stets am Tag der Winter-Tagundnachtgleiche als Menschenwesen zur Welt. Der dunkelste Tag des Jahres bringt das hellste Licht hervor.
Cassie Ailey, 8. Januar 1876
Kapitel 13
Ich wurde davon geweckt, dass eine lange Zunge mir gründlich das Gesicht wusch. »Custos.« Als ich die Augen öffnete, bedeckte klebriger Wolfsspeichel meine Haut wie eine Maske aus feuchter Tonerde. Kichernd ließ ich zu, dass sie mich in Richtung Bettkante schubste.
Kälte schlug meinen nackten Füßen entgegen. Der Stecker des Heizstrahlers war aus der Steckdose gerutscht. Zitternd rieb ich mir die Arme und zog einen Pulli über den Pyjama.
Im Haus war es still. Von unten hörte ich weder Tante Merry noch Tens. Mein Atem stockte, und ich wurde von Trauer ergriffen, als ich mich an Tens’ Beichte von gestern Abend erinnerte. Meine Tante hatte nicht mehr lange zu leben, und ich musste ihr beim Übergang helfen. Beim Sterben. Würde mir das gelingen?
In Custos’ Begleitung machte ich mich auf den Weg in die Küche, um mir ein Glas Saft zu holen. Allmählich nahm ich Tens’ Fähigkeiten als Hausmann für selbstverständlich. Und natürlich stand ein Krug frisch gepresster Orangensaft neben einem Glas. Inzwischen hatte er es aufgegeben, mich zum Frühstücken zu nötigen, doch an diesem Morgen hatte ich tatsächlich Hunger.
Also schnappte ich mir einen Blaubeer-Muffin und beschloss, dass Haus weiter zu erkunden, während die anderen noch schliefen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Draußen dämmerte es.
Aus dem Augenwinkel nahm ich einen Schatten wahr, doch als ich mich umdrehte, war nichts zu sehen. Ich öffnete die erste Tür im Erdgeschoss, die quietschend aufschwang. Der altmodische Schlüssel war nicht umgedreht.
Am anderen Ende des Raums bot ein Panoramafenster Blick auf ein verschneites Feld. Das Zimmer war mit schimmerndem Mahagoni ausgestattet. Die Regale auf der einen Seite waren voller Bücher, während sich an der Wand gegenüber Gemälde und Fotos drängten. Ich griff nach einer mit Samt eingefassten Steppdecke und legte sie mir um die Schultern. Durch die Glasscheiben mit der unebenen Oberfläche zog kalte Luft herein, so dass ich erschauderte.
Riesige vergoldete und schlichte, aus Holz gefertigte Rahmen enthielten Fotos, die Menschengruppen darstellten. Erschrocken erkannte ich meine Mutter als kleines Mädchen, zusammen mit der Tante. Ein Hochzeitsfoto meiner Eltern hing neben sepiabraunen Aufnahmen. Ich machte Licht, um mir alles besser anschauen zu können.
»Das war meine Hochzeit.« Ich zuckte zusammen, als meine Tante ins Zimmer trat.
»Echt? Du siehst so glücklich aus.« Ich wies auf die übrigen Fotos. »Wer sind diese Leute?«
»Angehörige, ein paar Freunde.« Sie kam näher und stellte sich neben mich.
»Mein Hochzeitsfoto ist das erste, das etwas geworden ist.« Meine Tante tippte mit der Fingerspitze auf das Glas.
»Was soll das heißen? Ist das auch typisch
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