Meridian
sinken. »Ich dachte wirklich, es wäre gebrochen, aber jetzt ist es schon viel besser.«
»Gut.« Tens wechselte einen Blick mit Tante Merry. Dann schob er das Sofa näher an den Kamin und wickelte eine Steppdecke um mich wie ein Tabakblatt um eine Zigarre. Ich stellte fest, dass seine Hände zitterten.
»Du knurrst, als wärst du ein Grizzly mit Bauchschmerzen. Mach mal Platz.« Die Tante scheuchte ihn beiseite und setzte sich auf die Sofakante, um mir die Stirn zu fühlen.
»Es tut schon nicht mehr so weh, wirklich. Wahrscheinlich war es nur verstaucht«, versuchte ich die beiden zu beruhigen. Doch es entsprach auch der Wahrheit. Jetzt, in Gegenwart meiner Tante, verstand ich nicht, wie ich je hatte an Atemnot leiden können, und ich kam mir weniger benommen, schwächlich und krank vor.
Tens schob Holzscheite in den Kamin, bis die Flammen knackend emporloderten. Anschließend tigerte er im Zimmer hin und her, wobei er unablässig die Hände in die Taschen steckte und wieder herauszog.
»Übertreib es mal nicht. Wir wollen sie aufwärmen,nicht braten.« Die Tante schob ihn weg. »Geh und hol ihr saubere Anziehsachen. Und jetzt schauen wir uns das Bein an.« Während Tens nach oben lief, streifte sie mir vorsichtig die Socke ab und rollte mein nasses Hosenbein hoch. Dann blickte sie mir ins Gesicht.
Das Feuer war so angenehm, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. Die frische Luft, die Aufregung und die Anstrengung hatten mich sehr ausgelaugt. »Ist er verstaucht?«
Zärtlich tätschelte die Tante mir das Bein und massierte mit hauchzarten Bewegungen meine Haut. »Was ist da draußen passiert, Kleines? Hast du Celia gesehen?«
Ruckartig riss ich die Augen auf. Ich war so froh gewesen, wieder zu Hause zu sein, dass ich die Ereignisse im Wald ganz vergessen hatte. »Celia, sie …« Meine Stimme versagte, und eine Träne lief mir über die Wange.
Tante Merry nickte. »Sie ist gestorben, richtig?«
Ich bestätigte das mit einer leichten Kopfbewegung.
»War sie irgendwo verletzt?« Als sie mir den anderen Fuß rieb, kehrte der Blutfluss zurück, und es prickelte wie Nadelstiche.
Ich schluckte die Galle hinunter, die mir in der Kehle aufstieg, und nickte wieder. Tens kam mit meinem Schlafanzug herein. Bei dem Gedanken, dass er in meinen Sachen herumgewühlt hatte, lief ich rot an.
»Was ist mit ihrem Knöchel?« Tens legte meinen Pyjama auf den Couchtisch und blieb mit verschränkten Armen in einigem Abstand stehen.
Die Tante lehnte sich zurück und sah mir in die Augen. »Nichts.«
Ich setzte mich auf und betrachtete meinen Knöchel. DieHaut war hell, nichts war geschwollen. Noch vor einer knappen Stunde hatte er sich angefühlt, als hätte er den Umfang einer Wassermelone. »Aber …«
»Was ist mit Celias Bein geschehen?«, fragte meine Tante. Ihre Miene war wissend, jedoch verständnisvoll.
Ich schloss die Augen. »Eine Falle. Eine von denen mit Zacken dran.«
»Und du warst bei ihr, als sie starb?«
»Ja.« Ich sah Tens an.
Er zuckte mit den Achseln.
»Hast du dir das Fenster vorgestellt?«, erkundigte sich Tante Merry.
»Nein!«, rief ich und schob ihre liebkosenden Hände weg. »Sie hätte nicht sterben dürfen. Sie war doch noch so klein. Ich hätte etwas tun sollen. Wenn ich mich nur besser mit Erster Hilfe auskennen würde und sie schneller gefunden hätte!«
»Meridian, all deine Krankheiten und körperlichen Gebrechen sind Ausdruck der Seelen, die sich in deiner Energie verfangen haben. Weil du Celia nicht losgelassen hast – und damit meine ich, das Fenster zu öffnen, damit sie ungehindert und mühelos übergehen konnte –, hat sich ihr Schmerz auf dich übertragen. Falls du so viel von ihren Schmerzen gespürt hast, hättest du eigentlich sterben müssen. Ich verstehe nicht, warum du überhaupt noch lebst.« Sie war erstaunt und dachte angestrengt nach. »Ich war nicht dabei …«
»Spürst du die Schmerzen auch?«
»Nicht mehr. Aber es erfordert Übung. Wenn man das Fenster erst einmal im Griff hat, tut es nicht mehr weh. Man spürt und sieht nur noch, wie sie übergehen.«
»Also ist mit meinem Knöchel alles in Ordnung?« Als ich den Fuß drehte, schien alles gut zu sein. Mir fiel auf, dass mein Wohlbefinden zunahm, wenn meine Tante im Zimmer war. »Es liegt an dir, richtig?«
»Was soll an mir liegen?«
»Dass ich mich in deiner Gegenwart besser fühle. Oder bilde ich mir das auch nur ein?«
»Mach dir nichts vor. Die Schmerzen sind echt. Aber ja, vermutlich
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