Meridian
Tagebuch. Genau genommen ist es
unser
Tagebuch. Die Fenestrae in unserer Familie haben es immer wieder ergänzt, umgeschrieben und das hinzugewonnene Wissen gehütet. Ich verspreche, dass es nicht beißt. Ich habe mir jahrelang Aufzeichnungen gemacht, in der Hoffnung, dass du hierherkommen würdest. Da die Zeit nicht reicht, dir alles zu erklären, wirst du es brauchen.« Sie reichte mir einen in Leder gebundenen Wälzer mit Goldprägung, der von einem Band zusammengehalten wurde. Das Buch war abgegriffen und verknickt. Viele fettige Finger hatten Abdrücke auf den Seiten hinterlassen, an manchen Stellen war die Tinte verwischt, und der Einband wies Flecken auf.
»Danke.« Das verdammte Ding war so schwer, dass ich es mit beiden Händen festhalten musste.
»Es ist schon Jahre her, dass meine Augen noch so gut waren, um es von vorne bis hinten zu lesen. Vielleicht gibt es ja doch einen Weg, die Aternocti zu bekämpfen, den ich vergessen habe. Ich werde nachdenken … wir müssen vorbereitet sein. Und jetzt schlaf.« Sie küsste mich auf die Stirn und setzte sich dann wieder ans Feuer.
Ich stand auf und belastete meinen Fuß. Alles war wie immer, so als hätte ich nie Schmerzen gehabt.
»Ich begleite dich.« Tens folgte mir wie ein Schatten.
Custos lag bereits schnarchend auf meinem Bett. Ich lachte.
Tens blickte mir kichernd über die Schulter. »Dein Bettwärmer?«
»Ja, offenbar.«
Custos schlug ein Auge auf, sah uns an und schlief wieder ein.
Tens schob sich an mir vorbei und drehte den Heizstrahler auf volle Leistung.
Nachdem ich ins Bett gekrochen war, nahm ich das gerahmte Foto von meinen Eltern und Sam vom Nachtkästchen. Wie sehr hatte sich mein Leben verändert, seit ich diesen Schnappschuss mit Sams Kamera gemacht hatte. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, ich wäre auf einem Familienfoto zu sehen gewesen. Nun wusste ich wenigstens, warum ich stets die Fotografin gewesen war.
Die Hände in den Taschen, blieb Tens an der Tür stehen und musterte mich mit einer grüblerischen Miene, die mir einen Schauder den Rücken hinunterjagte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wibbelig und erhitzt und hätte aus der Haut fahren können.
»Was ist noch?«, brach ich mit barscher Stimme das Schweigen.
»Nacht.« Er drehte sich um und wollte verschwinden.
»Warte!«, rief ich ihm nach.
Er steckte den Kopf zum Zimmer herein. »Was willst du?«
»Was meinte meine Tante damit, dass wir nicht mehr genug Zeit haben?«
Er wich meinem Blick aus. »Du musst lernen, Seelen durch dich hindurchgehen zu lassen, bevor …«
Ich glaubte, den Anflug eines ängstlichen und traurigen Ausdrucks über sein Gesicht huschen zu sehen, war jedoch nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte. »Bevor was?«
Er schluckte. »Sie hat nicht mehr lange zu leben. Wenn sie nicht durch dich hindurchgehen kann, verliert die Welt eine weitere Fenestra. Falls du es nicht schaffst … nun,dann ist es auch mit dir aus und vorbei.« Er schaute mir in die Augen.
»Was? Nein!« Entsetzt wich ich zurück.
»Eigentlich hätte ich es dir nicht verraten sollen, aber ich …«
»Ich habe ja selbst gefragt. Schon gut. Alles in Ordnung. Ich musste es einfach wissen.« Ich schloss die Augen und versuchte, tief durchzuatmen.
Tens trat einen Schritt vor, blieb stehen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich … tut mir leid …« Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Meine Tante lag im Sterben. Ich drehte die Lampe auf höchste Stufe, legte den riesigen Wälzer auf meinen Schoß und begann, darin herumzublättern.
23. März 1921
Ich bekomme die Seelen, die durch mich hindurchgehen, nicht immer zu sehen, sondern spüre nur die Wärme ihres Lichts und erhasche von meinem Aussichtspunkt im Diesseits aus einen Blick auf ihr Leben danach. Ich weiß, wann es geschieht und wann eine Seele sich meiner bedient. Ganz langsam gewöhne ich mich daran, aber ich frage mich, ob es je alltäglich werden wird.
2. Januar 1922
Das Lieblingsessen, ein Lied, die erste Liebe. Diese Dinge erkenne ich in dem Moment, in dem eine Seele durch mich hindurchgeht. Allerdings bin ich nicht in der Lage, das Wissenmit der Familie zu teilen. Ich finde es schrecklich, nur den Sterbenden, nicht den Hinterbliebenen Trost spenden zu können. Andere Menschen besitzen die Fähigkeit, die Brücken zu spannen, Nachrichten zu überbringen oder Ähnliches zu tun. Ich zweifle nicht an ihren Gaben, doch mir
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