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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Gepäckstücke und Trümmer beiseite, um die Fahrgäste, denen geholfen werden musste, besser sehen zu können. Offenbar war der Zug bis auf den letzten Platz mit Menschen auf der Rückreise aus dem Urlaub besetzt gewesen.
    »Ich habe mir das Bein gebrochen. Holen Sie mich hier raus.« Ein Mann hielt mich fest, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft, spürte ich nur Angst und Verzweiflung, nicht das Bedürfnis nach Übergang. Er wog schätzungsweise einhundert Kilo und war über eins achtzig groß. »Ich schiebe mit«, fuhr er fort. »Das andere Bein kann ich noch bewegen und damit nachdrücken. Bitte. Ich leide an Klaustrophobie und weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalte. Es ist so dunkel.«
    Ich nickte. »Es kann aber sein, dass es weh tut.«
    Er zwang sich zu einem Lächeln. »Wo Schmerz ist, ist Leben. Helfen Sie mir einfach hier raus.«
    Ich umfasste ihn fest und presste die Brust an seinen Rücken. »Also gut. Bei drei drücken Sie. Gemeinsam schaffen wir es.«
    Er nickte.
    »Eins.« Ich stemmte die Füße in den Boden und vergewisserte mich, dass nichts den Weg zu dem Loch versperrte, das ich Schritt für Schritt vergrößert hatte. »Zwei.«
    Er spannte sich an und holte tief Luft. »Drei«, riefen wir gemeinsam und landeten draußen in Schnee und Schlamm, wobei mein Rücken und mein Kopf den Großteil des Aufpralls abbekamen. Glasscherben hingen in meinen Haaren wie Eiskristalle, und ich spürte, wie mir etwas Warmes den Rücken hinunterlief. Ich war nicht sicher, ob es sich um Schweiß oder um Blut handelte. Vermutlich um beides. Das Stöhnen des Mannes verriet zwar, dass er Schmerzen hatte, aber er war stark und voller Lebenskraft.
    Nur das Adrenalin versetzte mich in die Lage, ihn zu einer freien Stelle zu schleppen. Dann packte ich einen der Mäntel, der gerade noch die Augen der Toten vor denen der Lebenden geschützt hatte, knüllte ihn zusammen und schob ihn ihm unter den Kopf. Anschließend breitete ich einen zweiten über seinen Körper und seine Beine. Ich wünschte, ich hätte bessere medizinische Kenntnisse gehabt. »Mehr kann ich nicht tun.«
    »Suchen Sie bitte meine Frau?«
    Ich nickte. Meine Beine fühlten sich an wie in Wasser eingeweichte Nudeln. Hustend drehte ich mich um und stürzte mich wieder ins Inferno.
    Im Laufe der nächsten Stunden trafen immer mehr Helfer ein. Sie fanden die Frau des Mannes, drei Jugendliche und einige Kinder. Sanitäter legten die Überlebenden auf Tragen und brachten sie so schnell wie möglich fort. Allerdings waren die Toten bei weitem in der Überzahl. Reverend Perimo beugte sich über einige Verwundete. Scheinbarbetete er, doch es stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich spürte zwar nicht, wie sie starben, aber er schloss ihnen die Augen und ging weiter.
Zu seinem nächsten Opfer?
    Ein einziger Löschwagen bekämpfte die Flammen, die jedes Mal näher kamen und höher emporloderten, wenn ich den Kopf hob, um nach ihnen zu sehen.
    »Sind Sie verletzt?« Es dauerte einen Moment, bis mir klarwurde, dass mich jemand besorgt musterte. Ein Feuerwehrmann mit von Ruß und Blut geschwärztem Gesicht beugte sich über mich.
    »Nein«, stieß ich hervor.
    »Können Sie gehen? Sie müssen hier weg. Sehen Sie diese Fahrzeuge? Dort müssen Sie hin.« Die Stelle, auf die er wies, war etwa ein Football-Feld oder noch weiter entfernt.
    »Aber es sind noch so viele Menschen hier«, protestierte ich. Ich spürte, wie pulsierende Hitzewellen vom Ende des Zuges heranwehten.
    »Ich weiß. Doch wir werden uns jetzt zurückziehen. Einige der Tankwagen können jeden Moment explodieren. Sie können hier nicht bleiben.« Der Feuerwehrmann wirkte genauso bedrückt, wie ich mich fühlte. Sicher fiel es auch ihm nicht leicht, Verletzten einfach den Rücken zuzukehren.
    In der Ferne sah ich, wie Reverend Perimo tiefer im Qualm verschwand. Er wurde von niemandem aufgehalten.
    »Wir dürfen sie nicht im Stich lassen!«, rief ich und wehrte mich gegen den festen Griff des Feuerwehrmanns.
    »Es ist die einzige Möglichkeit.« Er hob mich hoch, warfmich einfach über die Schulter und trug mich von dem zerstörten Zug weg.
    Auf dem Kopf stehend, betrachtete ich die aufgewühlte rote und dunkle Erde. Dann wurde die Welt schwarz, und ich verlor die Besinnung.
     
    »Meridian! Meridian!«, übertönte Ettas Stimme das Brausen des Jüngsten Gerichts. Wir waren in der Hölle, und eine Meeresschildkröte vertraute mir ihre Geheimnisse an. Aber ich hörte immer nur meinen Namen, was mich

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