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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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verschwand.
    Ich sank wieder in die Kissen. Obwohl ich wusste, dass ich aufstehen musste, wollte ich das warme Gefühl in meinem Magen noch eine Weile bewahren. Ich wusste nicht, warum es mir so gutging, hatte jedoch nicht vor, diesen Zustand zu hinterfragen.
    Bis mir Reverend Perimos Bemerkung wieder einfiel und ich mir vorstellte, wie er Celias Seele in die Hölle verschleppt hatte.

Kapitel 30
     
     
    Als ich nach meiner Tante sehen wollte, war sie nicht in ihrem Zimmer. »Tens?«, rief ich in den Flur hinein, weil ich keine Ahnung hatte, wo er steckte. Ich rannte zur Treppe und schaute unterwegs in jedes Zimmer »Tante?«, schrie ich.
    »Meridian!« Tens hielt mich fest, als ich stolperte.
    Ein Blick in sein Gesicht verriet mir, dass sie nicht in der Küche saß, Tee trank und sich so frisch und munter fühlte wie der junge Morgen. »Verrat mir, was los ist«, forderte ich und ließ mich auf eine Treppenstufe sinken.
    »Als wir nach Hause kamen, war sie umgezogen.«
    »Wohin denn?«
    »In den Erkerturm.«
    »Warum?« Mir wurde mulmig, noch während ich diese Frage stellte.
    »Bald ist es so weit.«
    Keuchend und atemlos rannte ich zum Turm. Offenbar hatte ich mich noch nicht vollständig von meiner Arbeit am Unglücksort erholt. Sie lag unter einem dicken Haufen Steppdecken und schlief. Obwohl ihr Atem regelmäßig ging, wachte sie nicht auf, ganz gleich, wie laut ich auch rief und sie anflehte. Bittere Tränen liefen mir über die Wangen.
    »Hier, Meridian.« Tens reichte mir eine Karte und ein Päckchen, das in mit Rosen bedrucktem Flanell eingewickelt war.
    Ich wollte es nicht öffnen, weil ich wusste, dass es ihre Steppdecke enthielt. Es auszupacken und ihre Lebensgeschichte in Händen zu halten bedeutete, mich mit ihrem Tod abzufinden. Ich klappte die Karte auf. Tante Merrys geschwungene Schrift erinnerte mich sehr an die meiner Mutter. In wenigen Wochen hatte sich mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt.
    »Ich kann nicht.« Ich gab Tens die Karte.
    Er nahm sie und las laut vor.
    »Mein liebes Kleines, Du hast es sehr schnell weit gebracht. Mir scheint es, als wäre ich erst gestern selbst sechzehn gewesen, und vor mir lag eine große und unbekannte Welt. Jetzt sitze ich hier mit Händen, die nicht länger leserlich schreiben können und keine Lust mehr haben, auch nur einen Stich zu nähen. Mein Geist ist müde. Ich habe das getan, wozu ich auf diese Welt gekommen bin, und hinterlasse sie nun Dir mit all ihren Möglichkeiten. In Tens hast Du einen starken Verbündeten – vertraue seiner Seele. Lerne aus Deinen Fehlern und aus Deinen Leistungen. Ich bin hier oben in das Zimmer gekommen, das Charles für mich gestaltet hat, um dem Himmel so nah wie möglich zu sein. Ich bin bereit für ein Fest. Mein einziger Wunsch ist, Charles an meiner Seite zu wissen. Ich werde Dich lieben und im Auge behalten, wo immer ich auch sein mag. Das ist meine letzte Geburtstags-Steppdecke für Dich. In Liebe, Deine Tante.«
    Tens klappte die Karte zu. Ich wickelte die Flanellhülle ab und entfaltete die Decke. Ein Garten voller Rosen erstrecktesich vor einer fast naturgetreuen Darstellung des Hauses. An den Säumen entdeckte ich Flugzeuge und die Umrisse von Ländern. Der Stoff war mit Wörtern und Rezepten bestickt. Porträts von Menschen und Bücherstapel wechselten sich mit Miniatursteppdecken aus winzigen Stoffstücken ab. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen.
    »Ich wünschte, ich hätte ihr von Charles erzählt.«
    »Dann sag es ihr jetzt. Sie lebt ja noch.«
    »Aber kann sie mich hören?«
    »Spielt das eine Rolle?«
    »Ach, Tante, Charles hat dich nicht verlassen. Er erwartet dich. Ich soll dir von ihm
eins-vier-drei
ausrichten.«
    Wir saßen bei ihr in dem Mansardenzimmer, das sie sich als letzten Aufenthaltsort ausgesucht hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf das Fest im Himmel gewartet. So verharrten wir in der obersten Etage des großen Hauses. Tens holte einen Heizstrahler, und wir wickelten uns in Schichten von Steppdecken, die vom Alter vergilbt und verschlissen waren. Ich hörte ihre Stimme in meinem Kopf: »Wozu ist eine Steppdecke gut, wenn man sie nicht benutzt? Dasselbe gilt für ein ungenutztes Leben. Sie sind dazu da, dass man sie zerknüllt und die Ränder abwetzt. Das ist der Weg aller Dinge. So ist es schon immer gewesen, und so wird es auch immer sein.«
    Ich hielt ihre Hand. Ihre Finger waren knotig und verkrümmt wie die Wurzeln uralter Bäume im Sumpf. Nicht wie die makellosen Wurzeln

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