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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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dünn besiedelten Landstrich würde es Stunden dauern, bis die ersten Fachleute eintrafen.
    Um mich herum hallte ein Gewirr aus Schmerzensschreien, und ich spürte, wie die Seelen an mir zerrten. Die Reihe der umgekippten Waggons vor mir schien endlos zu sein. Sie lehnten sich in alle Richtungen, als hätte ein unartiges Kind sie umgetreten. Die Gleise waren aus dem Boden gerissen, und ein Krater von der Größe einer Stretchlimousine markierte die Stelle, wo gerade noch die Lok und der vordere Teil des Zuges gewesen waren. Feuer loderten. Gepäckstücke waren im Schneematsch verstreut. Aus einem Waggon quollen Maiskörner, während Kisten mit Briefen einen Hügel hinunterrollten, wo sie zum Stehen kamen. Kuverts flatterten im Wind.
    Tens bemühte sich, dicht bei mir zu bleiben. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass er sich wie ein Schutzschild vor mir aufbaute. Menschen, noch vor wenigen Minuten lebendig, lagen nun zerschmettert am Boden. Sosehr ich es auch versuchte, gelang es mir nicht, Abstand zu wahren. Ich unterdrückte den Brechreiz und bemühte mich, mich nicht in der Trauer um die Toten zu verlieren. Im nächsten Moment rief ein Mann Tens zu, er solle ihm helfen, eine unter einer Stahltür eingeklemmte Frau zu befreien. Ich schob ihn hin und ging weiter in Richtung der Waggons, die es am schlimmsten getroffen hatte.
    Die Welt schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, als sehe man sich eine DVD Einstellung für Einstellung an. Jeder Blick und jeder Schritt teilte sich in einzelne Zeitfragmente.
    Ich schluckte meine Angst hinunter. Die Bilder, die Gerüche, so stellte ich mir den Krieg vor. Klebriger Rauch heftete sich an mich. Als ich die Verheerung betrachtete, glaubte ich nicht, dass hier jemand überlebt hatte.
    Während ich mich den Personenwaggons näherte, wurden die Schreie lauter. Ich spähte durch ein Fenster.
    Plötzlich hörte ich hinter mir ein Hüsteln und spürte die Gegenwart des Bösen.
    »›Ihr aber habt mich verlassen und andere Götter verehrt. Darum will ich euch nicht mehr retten. Geht und schreit zu den Göttern, die ihr euch erwählt habt! Diese mögen euch retten zur Zeit eurer Bedrängnis.‹ Dieses Zitat gefällt mir besonders gut. Ich sollte es öfter verwenden.«
    Ich drehte mich um und stand vor Reverend Perimo, der mich vergnügt angrinste. Er hatte bei dieser Katastrophe die Hand im Spiel gehabt. Keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich war mir absolut sicher und spürte es mit jeder Faser meines Körpers. »Haben wir das hier Ihnen zu verdanken?«
    »›So werden über dich all diese Flüche kommen, werden hinter dir her sein und dich treffen bis zu deiner Vernichtung; denn du gehorchtest nicht der Stimme des Herrn, deines Gottes.‹ Das klingt doch auch recht einprägsam, oder? Der Allmächtige zögert nicht, die zu bestrafen, die nicht tun, was man ihnen sagt. Ein Jammer, dass so viele Menschen das immer wieder vergessen.«
    »Sie haben das getan, richtig?« Ich verspürte einen unerklärlichenSog von Energie. Hinter mir im Waggon befand sich ein sterbender Mensch. Mehr als einer. Das Gefühl, dass jemand mich brauchte, wurde immer stärker.
    Perimo packte mich am Arm. »›Des Bösen Pläne sind dem Herrn ein Greuel, rein aber sind ihm liebevolle Reden‹«, zischte er in eindringlichem Ton. »›Den Frevler hält der Herr sich fern.‹ Hört der Schöpfer Ihr Rufen, Meridian?«
    »Lassen Sie mich los.« Ich stieß ihn mit Leibeskräften weg, drehte mich um und blieb erst stehen, als ich die Tür des Waggons erreicht hatte.
    »Dich kriege ich noch!«, rief er mit überschnappender Stimme in die Nacht hinein.
    Einige freiwillige Helfer brachen die Fenster der Waggons auf. Ich kletterte auf einen auf der Seite liegenden Wagen, indem ich Trümmer als Stufen benutzte, um eine Tür zu erreichen. Unten in der dunklen Tiefe sah ich Gestalten.
    Ich rutschte an einer Haltestange hinunter wie ein Feuerwehrmann und landete in Finsternis und Qualm. Der Gestank nach verbranntem Gummi und menschlichen Exkrementen verschlug mir den Atem.
    Sofort wurde ich von einer Welle der Sehnsucht nach der anderen getroffen. Mehr Seelen, als ich zählen konnte, zerrten an mir. Es war, als wollten die Zuschauer in der ersten Reihe eines Rockkonzerts unbedingt den Star berühren. Mich.
    Ich schloss die Augen und vergewisserte mich, dass mein vorgestelltes Fenster weit offen war. Der Wind blähte die Vorhänge mit der Wucht eines Orkans. Die Landschaft draußen wirbelte wild herum, da jede

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