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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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hinaus auf die Veranda. Custos stand bellend vor dem Kamin.
    »Was ist passiert?«, rief Tante Merry mit schwacher Stimme von oben.
    »Bleib, wo du bist«, rief Tens zurück.
    Schlitternd blieben wir stehen und blickten ins Tal hinunter, wo Feuerbälle in den Himmel hinaufstiegen. Tintenschwarzer Qualm wehte im Wind wie das Segel eines Piratenschiffs. Die Hölle war über die Erde hereingebrochen.
    »Der Zug«, keuchte ich. Aus dieser Entfernung wirkte er wie eine Spielzeugeisenbahn. Asche und Trümmer wurden durch die Luft geschleudert und prasselten auf uns hernieder. Den Geruch konnte ich kaum beschreiben – heißes Metall, Gas, Treibstoff und der widerwärtige Gestank verbrannter Menschen.
    »Verdammt.« Tens packte mich an den Schultern und sah dann auf die Uhr. »Das war der Fünf-Uhr-Zug.«
    »Güter oder Personen?« Die Frage hing zwischen uns in der Luft.
    »Keine Ahnung. Du erkundigst dich bei deiner Tante. Ich schaue nach, ob das Haus was abgekriegt hat.« Er hastete den Flur entlang.
    Ich stürmte in Tante Merrys Zimmer. »Der Zug. Er ist in die Luft geflogen. Es sieht ziemlich übel aus.«
    Sie schlug die Augen auf. »Ist er entgleist?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich.
    »Es ist ein Güterzug, an den auch Personenwagen gehängt werden.«
    »Also waren Menschen im Zug?«
    »Vermutlich.« Sie bemühte sich aufzustehen. »Wir müssen sofort los.« Ich versuchte, sie zum Hierbleiben zu bewegen.
    Tens kam ins Zimmer gelaufen. »Du gehst nirgendwo hin.« Sanft schob er sie zurück ins Bett. »Mit dem Haus scheint alles in Ordnung zu sein.«
    »Ich bin Krankenschwester.« Sie sträubte sich zwar, hatte aber ebenso wenig eine Chance wie ein Schmetterling gegen einen Bären.
    »Du bist Patientin.« Tens’ Tonfall duldete keinen Widerspruch.
    Sie blickte mir über seine Schulter hinweg in die Augen. »Menschen werden sterben.« Es war klar, was sie mit dieser Bemerkung andeuten wollte.
    Bin ich schon so weit? Kann ich mit mehreren Sterbenden gleichzeitig umgehen? Ich weiß es nicht.
    Ich schluckte. »Du bleibst hier.«
    »Mit so vielen auf einmal ist sie noch überfordert. Dazu hast du ihr noch nicht genug beigebracht.« Tens’ Stimme wurde höher und lauter. Da ich ihm seine Angst anhörte, bemühte ich mich, ihn zu beruhigen.
    »Ich schaffe das. Ich weiß, wie man das Fenster schließt«, beteuerte ich so selbstsicher wie möglich. Allerdings tobten heftige Zweifel in mir.
Wie kann ich verhindern, dass ichmich in der Energie so vieler Menschen verheddere? Was kann ich tun, damit ich nicht auf die andere Seite gezogen werde?
    »Sie ist noch nicht bereit.« Tens baute sich vor mir auf und fasste mich an den Händen. »Ich gehe hin, sehe nach, wie schlimm es ist, und komme gleich wieder. Ich fahre dich später hin.«
    Ich berührte seine Wange. Es machte mich sehr glücklich, dass er mich beschützen wollte, aber das konnte er nicht. Ich durfte es nicht zulassen. Wenn es zum Letzten kam, musste ich es auf meine Art tun. »Wir sind zurück, wenn wir fertig sind. Du fährst«, meinte ich zu Tens und hauchte Tante Merry dann einen Kuss auf die Stirn.
    »Solange du das Fenster weit offen hältst und mit aller Macht versuchst, im Zimmer zu bleiben, kann dir nichts geschehen«, flüsterte sie. »Schließe das Fenster erst, wenn keine Gefahr mehr besteht, sonst könnte eine Seele dich beim Übergang zerbrechen. Benutze deine Instinkte.«
    »Und wenn ich es immer offen lasse …«
    »Es zu öffnen ist nicht das Problem. Halte dich nur dort auf, wo du den Lufthauch kaum spürst, so als liefe ein Venti lator, der nicht das ganze Zimmer erreicht. Dann verhedderst du dich nicht. Lass das Fenster weit offen stehen. Seelen, die Schmerzen leiden, wünschen sich für gewöhnlich einen schnellen Übergang. Sie werden dich bedrängen. Sei standhaft. Dann werde ich stolz auf dich sein. Und deine Familie auch.« Sie tätschelte mir die Schulter. »Ich liebe dich. Das sollst du spüren und wissen. Die Liebe wird dir helfen, das zu überstehen. Bist du bereit?«
    Ich nickte und griff nach Verbandskasten, Mantel und Handschuhen. Die Welt fühlte sich unjahreszeitgemäß warm an. Tens folgte mir.
     
    Da wir wegen der Bodenbeschaffenheit und der Hitze nicht sehr nah an die Unfallstelle heranfahren konnten, ließen wir das Auto stehen und rannten auf den Zug zu. Hinter uns stoppten einige Löschwagen der Freiwilligen Feuerwehr mit quietschenden Bremsen. Aus der Ferne hörte ich Sirenen. Wegen der großen Entfernungen in diesem

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