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Merlin und der Zauberspiegel

Merlin und der Zauberspiegel

Titel: Merlin und der Zauberspiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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Nadeln. Dann legte ich sehr vorsichtig beide Hände über die Stelle und beschwor den Saft sich zurückzuhalten,
     die Wunde zu verstopfen.
    Nach einer Weile spürte ich, wie der Saft unter meinen Handflächen gerann. Ich nahm die Hände weg, zerrieb ein paar abgefallene
     Tannennadeln und streute sie sanft über die Stelle. Dann beugte ich mich näher, blies mehrmals langsam, ruhig darüber und
     schickte dabei meine Gedanken in die Fasern des Baums.
Streckt euch tief, ihr Wurzeln, und haltet fest. Ragt hoch, ihr Äste; vereinigt euch mit Luft und Sonne. Rinde – wachse dick
     und stark. Und Kernholz: steh fest, bieg dich geschmeidig.
    Dann, als ich spürte, dass ich mehr nicht tun konnte, trat ich vom Stamm zurück. Ich drehte mich um und wollte etwas zu Hallia
     sagen, aber da meldete sich eineandere Stimme. Ich hatte sie noch nie zuvor gehört – so hauchig, schwingend und seltsam, mehr aus Luft als aus Klang gemacht.
     Doch ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme des Baums.

VI
VERBUNDENE WURZELN
    Z u meiner Überraschung redete der Baum nicht in der Sprache der Tannen, diesem Zischen und Wispern, das ich kennen gelernt
     hatte, sondern in der allgemeinen Sprache von Fincayra, derselben, in der Hallia und ich uns unterhielten. Doch die hauchige
     Stimme und der Rhythmus, der schwankte wie ein Schössling, waren anders. Verblüffend anders. Ich hatte nie jemanden so reden
     – oder eigentlich singen – hören.
     
    Meine Wurzeln arbeiten tief in der Erde,
    Graben, saugen –
    Baumplackerei,
    Damit ich groß und stattlich werde.
    Jahr um Jahr, Jahrhunderte gar
    Bilde ich Wurzeln zum Stehen.
    Während die Äste zum Himmel sich heben,
    Königlich, frei,
    Bilde ich Wurzeln, um höher zu streben
    Und weiser zu leben.
    Weiser zu leben.
     
    Unsicher wich ich zurück. Im nächsten Moment stieß ich mit der Schulter an Hallia. Ihre Augen, noch größer als sonst, waren
     auf den Baum gerichtet. In den Falten meiner Schlinge hob sich über zitternden Schnurrbarthaarenein anderes rundes Augenpaar. Plötzlich bebte der Baum in so offensichtlichem Schmerz, dass ich unwillkürlich mit Schaudern
     reagierte. Rindensplitter, mit Saft benetzt, schwebten von den Zweigen und fielen wie Tränen auf die Wiese.
     
    Zu bald kommt der Tag, der nicht tagen mag –
    Hacken, Attacken –
    Ein Mann kommt zum Schlag.
    Ich bin ihm im Weg, das reizt seine Wut,
    Doch niemals würde ich ihn erschrecken,
    Ihn niederstrecken!
    Mein Leben und was ich zu wissen vermag,
    Könnte jetzt enden.
    Doch niemals würde ich ihn zerfetzen,
    Ihn niemals verletzen.
    Niemals verletzen.
     
    Die hauchige Stimme wurde schrill, klang fast wie Pfeifen. Ich spürte einen scharfen Schmerz in den Rippen, als hätte man
     mir eine Klinge in die Seite gestoßen. Doch der Baum fuhr fort:
     
    Kurz vor dem Ende dann rettende Hände!
    Sie eilen, sie heilen –
    Die Wunde der Axt.
     
    Hier legte Hallia ihre Hand in meine. Entweder ihre Berührung oder der veränderte Ton des Baums besänftigte den Schmerz in
     meiner Brust. Allmählich streckte sich mein Rücken und ich stand aufrechter da, während der Baum sich ebenfalls aufrichtete.
     
    Du vereitelst den Mord, jagst den Mörder fort,
    Ich kann weiterleben
    Und geben!
    Froh streck ich die Äste,
    Frei biegt sich mein Stamm,
    Muss das Wachsen nicht missen
    Und darf wissen.
    Und wissen.
     
    Jubelnd schwenkte die mächtige Tanne ihre obersten Äste. Dann bog sie mit lautem Knarren den Stamm in eine Viertelumdrehung
     – erst zur einen Seite, dann zur anderen. Der Baum, erkannte ich, streckte sich. Er bereitete sich auf irgendeinen anstrengenden
     Kraftakt vor.
    Auf halber Höhe des Stamms öffneten sich zwischen Rindenstreifen zwei Kerben – und gaben ein schmales schweifendes Augenpaar
     frei, so braun wie die fruchtbarste Erde. Die Augen starrten uns mehrere Sekunden lang aufmerksam an, bevor sie schließlich
     zu Boden schauten. Plötzlich begann die ganze Wurzelmasse zu beben und schüttelte den Baum, so dass er uns mit Nadeln, Zweigen
     und Rinde überschüttete. Holz knarrte und brach. Erdklumpen, von den Wurzeln abgeschüttelt, flogen in die Luft.
    Hallia drückte meine Hand fester. Der Ballymag stieß einen erschrockenen Schrei aus, dann steckte er den Kopf tief in die
     Schlinge.
    In diesem Augenblick drehte sich eine riesige Wurzel, bäumte sich auf – und brach vom Boden los. Sie peitschte die Erde wie
     eine knorrige, behaarte Gerte. Langsam spreizte sie ihre Hunderte von Ranken, um das

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