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Merlin und der Zauberspiegel

Merlin und der Zauberspiegel

Titel: Merlin und der Zauberspiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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einem Zweig ein einzelnes Blatt, das im Halbdunkel zu leuchten schien. Ich blieb stehen und beobachtete, wie es langsam
     schaukelte wie eine längst vergessene Fahne. Das fleischige Innere hatte sich fast ganz aufgelöst und nur ein zartes Flechtwerk
     von Adern zurückgelassen. Ich legte die Hand dahinter und staunte, wie viel ich durch die leeren Stellen sehen konnte – und
     wie viel doch von der Form des ursprünglichen Blatts noch vorhanden war. Wie konnte so viel davon unsichtbar und sichtbar
     zugleich sein?
    Plötzlich hörte ich Hallia stöhnen. Ich fuhr herum und sah, wie sie reglos dastand und etwas am Rand eines trüben Tümpels
     anstarrte. Ich stapfte zu ihr und bemerkte einen verwesenden, zerstückelten Kadaver, der auf dem Torf lag. Was vom Fell übrig
     geblieben war, schimmertebeige und grau. Ein verrenktes Bein ohne Fleisch streckte sich uns entgegen, der Huf war mit Blut befleckt.
    Hallia stöhnte wieder und drückte ihr Gesicht an meine Schulter. »Ein Hirsch, armes Ding. Wie konnte jemand das tun?«
    Ich hielt sie nur fest, das Bild des leuchtenden Blatts war jetzt von dem grausamen Anblick vor uns verdrängt. Nach einiger
     Zeit stapften wir weiter ohne zurückzuschauen. Wieder hörten wir außer unseren Schritten nichts als Stille. Aber jetzt schien
     es Todesstille zu sein.
    Wir überquerten einen Torfhügel, der unter jedem Tritt schwankte, und betraten dann das Sumpfgras, das den schiefen Baum umgab.
     Steife Halme streiften unsere Beine, als wir uns dem Baum näherten. Während Hallia sich an den Stamm lehnte, stand ich unter
     den knorrigen Ästen und versuchte einen Pfad zu finden, dem wir folgen konnten bis zur Anhöhe – und, hoffte ich, zu einer
     gewissen Sicherheit. Schließlich wählte ich eine gangbare Strecke aus. Ich schob sprödes Gras zur Seite, das mir bis an die
     Brust reichte, und drehte mich nach Hallia um.
    Plötzlich hallte der schrille Schrei des Kranichs über das Moor. Der Vogel stieg von dem nahen Stein auf, die breiten silbrigen
     Flügel peitschten den Nebel. Verwundert darüber, was ihn erschreckt haben könnte, suchte ich das Gras ab, sah aber nichts.
     Hallias Augen verrieten mir, dass auch sie verblüfft war und außerdem erschrocken.
    Wir standen reglos und horchten. Das Flügelschlagen erstarb langsam, von der Stille verschluckt. Dann . . . ich dachte, ich
     hätte etwas anderes gehört. Nur ein Echo des Vogelflugs? Nein, dieses Geräusch schien näher zu sein. Viel näher. Rhythmisch,
     wie flaches, stoßweises Atmen.
    In diesem Moment fiel etwas aus dem Baum und schlug auf meinen Rücken. Ich fiel mit dem Gesicht voraus ins Gras und spritzte
     Schlamm in alle Richtungen. Bevor ich mich von dem Schreck erholen konnte, wurde ich von einer drahtigen Gestalt in zerfetzten
     Gewändern angegriffen. Wir rollten durch den Schlamm, jeder von uns wollte die Oberhand gewinnen. Wegen der zerrissenen Stoffschichten
     konnte ich meinen Angreifer kaum sehen – und noch weniger fassen. Schließlich wurde mir der Arm auf den Rücken gedreht. Eine
     kräftige Hand umklammerte meinen Hals.
    »Ergib dich«, rief eine Stimme, »wenn dir dein Leben lieb ist.«
    Ich hustete immer noch von all dem Schlammwasser, das ich geschluckt hatte, und konnte nicht antworten. Der Angreifer verdrehte
     meinen Arm noch stärker und spaltete mir fast die Schulter. Schließlich krächzte ich heiser: »Ich . . . ah, ergebe mich!«
    »Sag deiner Gefährtin, sie soll das Gleiche tun«, befahl er.
    Schnell wie ein Hirsch sprang Hallia vom Baumstamm herüber. Sie stürzte sich direkt auf unseren Gegner und schleuderte ihn
     ins Sumpfgras. Ich kam auf die Füße und lief zu ihm. Instinktiv griff ich nach meinem Schwert und erwartete den Klang der
     magischen Klinge zu hören. Als ich merkte, dass die Waffe nicht da war, zuckte ich zusammen, erinnerte mich – und zog stattdessen
     meinen Stock.
    Ich schwang den knorrigen Griff über der zusammengeduckten Gestalt und knurrte selbst einen Befehl. »Jetzt sag uns deinen
     Namen.«
    Hallia stellte einen nackten Fuß auf eins seiner Beine, damit er sich nicht wegschlängeln konnte. »Und warum du uns angegriffen
     hast.«
    Aus der Masse zerrissener Gewänder hob sich langsam ein Gesicht. Es war nicht, wie ich erwartet hatte, das Gesicht eines Kriegergoblins.
     Oder das eines grauhaarigen Banditen, der Böses im Sinn hatte. Nein, dieses Gesicht war völlig anders und völlig überraschend.
    Es war das Gesicht eines Jungen.

XIII
ECTOR
    D er Junge

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