Merlin und der Zauberspiegel
»Das ist es, was wir wirklich brauchen.«
»Stimmt.« Ector stieß einen schweren Seufzer aus. »Mut, der Zukunft zu begegnen.«
Ich reichte ihm ein weiteres Stück. »Die Zukunft kann beängstigend sein, nicht wahr?«
»Am meisten an einem Ort wie diesem, junger Falke. Wo jeder Schritt bedeutet . . . Entscheidungen zu treffen. Schwierige Entscheidungen.«
Er biss wieder zu und kaute nachdenklich. »Gleich welchen Pfad du wählst, er ist zwangsläufig teils richtig und teils falsch.«
Ich nickte. »Das ganze Leben kommt mir häufig so vor: unbekannte Wege, von so dichtem Nebel verhüllt, dass du kaum sehen kannst,
welche Wahl du wirklich hast.« Ich schluckte meinen Bissen. »Ich nehme an, du kannst nicht mehr tun, keiner von uns kann mehr
tun als zu versuchen sein Bestes zu tun.«
»Trotz des Nebels?«, fragte er traurig.
»Trotz des Nebels.«
»Aber wenn . . . wenn die Entscheidung, vor der du stehst, klar ist, aber einfach unmöglich? Wenn du zum Beispiel jemandem
helfen willst, vielleicht jemandem, den du sehr liebst – aber wenn dir das gelingt, bedeutet es,dass du einem anderen, nun, nicht helfen kannst. Einem, der es ebenso verdient, dass ihm geholfen wird. Was machst du dann?«
Ich streckte die Hand aus und umfasste einen seiner Fußknöchel. »Ich weiß nicht, was du ergründen willst, Ector, oder wer
es ist, dem du zu helfen versuchst.«
Er machte eine Bewegung, offenbar wollte er reden, hielt sich aber zurück.
»Und doch«, fuhr ich fort, »kann ich dir eins mit Bestimmtheit sagen. Welche Schwierigkeiten die Zukunft auch für dich bereithalten
mag, das wird sich nie ändern.« Ich senkte die Stimme. »An diesem Tag hast du zweifellos jemandem geholfen. Und, Ector, .
. . ich werde es nie vergessen.«
Schweigend nickte er, versuchte sogar zu lächeln. Doch darunter blieb sein Gesicht ernst. Ich sah, dass meine Worte ihn berührt
hatten, doch sie erleichterten nicht, wie ich gehofft hatte, seine Bürde. Wusste er möglicherweise mehr über die Zukunft,
als er enthüllen konnte?
Schließlich legte er seine kleinere Hand auf meine. »Ich bin froh, dass du diese Bäume gefunden hast, junger Falke. Und ich
bin auch froh, dass du mich gefunden hast.«
Lange schwiegen wir. Dann hob ich die Arme zu der Decke aus Dornen und versuchte meinen Rücken zu strecken. »Ich glaube, wir
sollten versuchen ein wenig zu schlafen. Das Dumme ist, dass ich nicht müde bin.«
»Ich auch nicht«, sagte er.
»Und ich auch nicht«, flüsterte Hallia und drehte sich zwischen den Wurzeln. »Besonders bei diesem ständigen Heulen und Schreien
dort draußen, auch wenn es gedämpft ist.«
»Mir«, gestand ich, »machen diese Geräusche nicht so viele Sorgen wie . . .«
»Die Blutschlinge?«, fragte sie mitfühlend.
»Ja, das verfluchte Ding! Ich muss mich immer wieder fragen, wann das Elixier aufhört zu wirken. Und wie sich das anfühlen
wird.«
»Was wir wirklich brauchen«, schlug Ector vor, »ist eine gute Geschichte. Die Art, die einen ablenkt von, nun, von allem anderen.«
»Ich kenne eine begabte Geschichtenerzählerin. Sie ist in einem Clan aufgewachsen, dessen Leben Geschichten aller Art bereichern.«
Ich versetzte Hallias Bein einen leichten Stoß. »Wärst du bereit?«
»Ja, bitte. Wärst du bereit?«, wiederholte der Junge.
Sie holte lange, langsam Atem. »Nun, ich glaube schon.« Einen Moment sah sie zu Boden und dachte nach, bevor sie wieder den
Kopf hob. »Gut. Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die bei meinem Volk berühmt ist. Es ist die Geschichte eines Mädchens
namens Shallia. Und es ist eine Geschichte über Nebel, über Freundschaft und über Entscheidungen. Unmögliche Entscheidungen.«
Sie kreuzte die Beine, legte die Hände in den Schoß und schaute auf die Wand aus Ästen. Ihr Gesichtsausdruck schien zu sagen,
dass sie direkt durch die beschützenden Bäume in die wogenden Wolken dahinter schauen konnte. Dann fing sie an mit einer Stimme,
so zart wie eine Abendbrise am Meer: »Hört mir jetzt zu, denn ich werde euch
Die Geschichte vom flüsternden Nebel
erzählen.«
XV
DIE GESCHICHTE VOM FLÜSTERNDEN NEBEL
A n der fernen Küste eines fernen Meers steigt der Nebel allnächtlich aus den sternenbeglänzten Wellen. Er breitet sich über
dem dunkelnden Wasser aus und streckt dünne, zarte Finger zum Land. Und in dieser Nacht, wie in vielen Nächten zuvor, greift
der Nebel zuerst nach einer einzelnen Stelle, einem einzelnen Fels – dem Fels, der
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