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Merlin und der Zauberspiegel

Merlin und der Zauberspiegel

Titel: Merlin und der Zauberspiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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immer noch als Shallias Stein im Gedächtnis
     der Menschen ist.
    Denn Shallia kam oft hierher.
    Mit baumelnden Beinen saß sie Stunde um Stunde am Felsrand. Um zu sehen, wie die Sonne ins Meer sank oder die Sterne wie leuchtende
     Elritzen am aalschwarzen Himmel schwammen. Um die ersten Nebelschwaden an den Zehen zu spüren. Und vor allem um zu horchen:
     auf das Klatschen der Wellen und den Schrei der Möwen; auf das Prusten der Wale bei ihren Atemzügen, so tief wie das Wasser;
     und in manchen Nächten auf ein anderes Geräusch – anders als Wellen, anders als Wale   –, ein geheimnisvolles Flüstern, das fast lebendig wirkte.
    Das Flüstern erinnerte sie aus irgendeinem Grund an ihre früheste Kindheit, ihre schönsten Jahre. Zwar hatte sie nie ihre
     Mutter gekannt – die Götter des Meeres und der Küste hatten sie bei Shallias Geburt zu sich genommen   –, aber ihr Vater war immer bei ihr gewesen. Wie hatten sie gelacht, wenn sie in die Wellen sprangen, zusammenMuscheln freilegten und einander bei Ebbe durch die Tümpel der springenden Fische jagten! Wie intensiv hatten sie gelebt,
     ganz eins mit den Wellen und sich selbst.
    Bis zu dem Tag, an dem alles geendet hatte – als die Erinnerungen ertranken wie ihr Vater, nachdem er auf die Stacheln eines
     giftigen Speerfischs getreten war, der sich in den Untiefen verborgen hatte.
    Von der Großmutter aufgenommen, war Shallia in eine Lehmhütte am Rande des Dorfs gezogen. Sie hatte weder Geschwister noch
     Freunde ihres Alters. Doch so sehr sie sich auch nach Gesellschaft sehnte, sie blieb für sich. In ihrem Herzen war kein Platz
     für irgendetwas außer Einsamkeit – und die unaufhörliche Sehnsucht, am Meer zu sitzen.
    »Sitz nicht allein am Wasser«, warnte ihre Großmutter. »Vor allem nicht bei Nacht. Denn dann, mein Kind, kommen die Seeghule
     dem Strand am nächsten.«
    Seeghule, erklärte die alte Frau, lebten im schattigen Reich zwischen Wasser und Luft. Gefährlicher als ein Schwarm Speerfische,
     konnten sie jede gewünschte Gestalt annehmen, ähnlich wie der Nebel. Sie konnten Menschen in den Wahnsinn treiben und hatten
     es schon häufig getan. Es gab viele Geschichten über Dorfbewohner, die zu lange nach Einbruch der Dunkelheit am Meer verweilt
     hatten und von Seeghulen in die Wellen gelockt worden waren. Die Strömung hatte sie davongetragen und sie wurden nie lebend
     gefunden – oft gar nicht gefunden. Nur ihre Fußspuren im Sand, die mit dem Mondlicht schwanden.
    Shallia hatte alle die Geschichten gehört. Aber nochdeutlicher hatte sie den fernen Ruf der Wellen gehört. Wie konnte dieses Flüstern, das doch ihren Kummer eine Weile besänftigte,
     gefährlich sein? Allein der Gedanke, die Ohren vor diesem Geräusch zu verschließen, machte sie traurig und einsamer denn je.
     Und so stahl sich Shallia allnächtlich, wenn ihre Großmutter schlief, leise an den Strand.
    Jede Nacht saß sie da und sah zu, wie flüssige Dunkelheit in die große Schale des Meers gegossen wurde. Manchmal schloss sie
     die Augen und stellte sich vor, dass ihre Eltern aus dem seichten Wasser traten, zu ihr zurückkehrten. Oder dass eine richtige
     Freundin kam, mit der sie so vertraut war, dass sie überhaupt keine Worte brauchten, um die Gedanken der anderen zu verstehen.
     Doch das, wusste Shallia, waren nur Träume, nicht wirklicher als die Geschichten ihrer Großmutter.
    Eines Nachts folgte Shallia dem Pfad des Vollmonds hinunter zum Meer, sie trat über zerbrochene Muscheln und Treibholz. Als
     das Gras dem Sand wich, klatschte eine riesige Woge donnernd an den Strand. Langsam zog sich die Welle zurück und spülte dabei
     über das Riff. Shallia sah, dass ihr Fels, nass von Gischt, unheimlich leuchtete.
    Sie kletterte auf ihren von Rankenfußkrebsen bedeckten Sitz. Mondlicht funkelte auf den Wellen; Nebelmähnen strömten von jedem
     Kamm. Die salzige Brise zerzauste Shallias Locken und sie fröstelte. Nicht so sehr wegen der Abendkühle als wegen eines Gefühls,
     das sie nicht genau benennen konnte. Teils Ungewissheit, teils Hoffnung, teils Bedrohung.
    Sie schaute hinaus aufs offene Meer. An diesem Abendwogte der Nebel noch mehr als das Wasser, er bildete wilde, phantomartige Gestalten, bevor er wieder zu nichts zerstäubte.
     Sie sah, wie ein Mondstrahl eine Nebelspirale traf und die Hälfte eines Augenblicks lang Gestalten in den Gestalten enthüllte,
     Schatten in den Schatten. Und immer, von irgendwo dort draußen, schwoll und verklang das

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