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Merlin und der Zauberspiegel

Merlin und der Zauberspiegel

Titel: Merlin und der Zauberspiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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langer Nebelarm aus den Wellen. Bald kam ein zweiter dazu, ein dritter.
     Die zarten Arme schlugen um sich, scharrten am Himmel, als würden sie von einem heftigen Sturm gepeitscht. Doch es gab keinen
     Sturm, jedenfalls keinen, der zu sehen war.
    Plötzlich stieg eine Nebelwoge über das Wasser und wurde mit jeder Sekunde höher, während sie auf den Strand, auf den Fels
     – und auf Shallia zulief. Gerade als der Nebel sie erreicht hatte, wölbte sich die große, schimmernde Wand vor und kräuselte
     sich über ihr erhobenes Gesicht. Dann stürzte sie hinab und begrub sie völlig.
    Sofort zerriss der wirbelnde Nebel und löste sich auf. Die Luft wurde still, genau wie das Meer. Aber Shallia war nicht da,
     um die Veränderung zu sehen. Ihr Fels war leer gefegt.
    Shallia kam auf einem seltsamen, sanften Hügel zu sich. Ein lauer Wind, der nach Salz roch, zerzauste ihr Haar. Der Boden,
     falls er Boden genannt werden konnte, fühlte sich so feucht an wie Moos nach dem Regen und so nachgiebig, dass sie mit der
     Hand fast durchgreifen konnte. Vor ihr erstreckte sich eine wirbelnde, wechselnde Landschaft. Berge stiegen auf und zerfielen
     wie schäumende Wellen, Schluchten klafften, schlossen sich und öffneten sich wieder und farbenprächtige Wolken funkelten wie
     schmelzende Regenbogen.
    Dann bemerkte sie einen unheimlichen Klang, der sich ringsum erhob. Sein langsamer, schwingender Rhythmus erinnerte sie an
     Wellen, die ans Land fluten. Doch dieser Klang war tiefer, voller – voll Gefühl, als würden tausend Stimmen gemeinsam singen.
     Wie etwas, das Shallia in einem anderen Land, einer anderen Welt gehört hatte.
    Wo, überlegte sie, hatte sie diesen Gesang schon gehört?
    Die Luft um sie herum schimmerte, während sich auf jeder Seite silbrige Umrisse bildeten. Shallia sprang auf die Füße, unschlüssig,
     ob sie stehen bleiben oder weglaufensollte und, wenn sie weglief, wohin. Rasch verdichteten sich die Umrisse zu Menschen, groß und ernst. Sie standen in einem
     Kreis um etwas, das sie nicht sehen konnte. Leise sangen sie und fügten ihre Stimmen zu dem rhythmischen Lied – einem Lied,
     das mit jedem Ton trauriger, sehnsüchtiger wurde.
    Einer der Sänger, ein Mann, dessen Umhang so anmutig wehte wie Tangwedel, wandte ihr das Gesicht zu. Einen langen Moment betrachtete
     er Shallia. Schließlich sprach er, seine tiefe Stimme zitterte wie eine Glocke unter Wasser. »Kind der gehärteten Welt, mein
     Wunsch war es nicht, dich hierher zu bringen. Aber meine Tochter, die dich Freundin nennt, wollte es. Und obwohl ich die Weisheit
     des Vorhabens bezweifelte, konnte ich es ihr nicht abschlagen.«
    »Malasha?« Shallia trat näher, ihre nackten Füße sanken in den feuchten Boden. »Du bist ihr Vater?«
    Der Mann presste die Lippen zusammen, während der verzweifelte Gesang anschwoll. »Ja. Und ihr Vater bleibe ich, selbst nachdem
     sie gestorben ist.«
    Seine Worte trafen Shallia wie eine eisige Welle. »Nicht wieder«, flüsterte sie. »Bitte nicht wieder.«
    Der Mann hob seine silbrige Hand. Zwei der Sänger traten zur Seite und gaben den Blick auf eine schlanke Gestalt frei, die
     auf einem Nebelbett lag. Es war tatsächlich Malasha. Shallia ging näher heran. Ihre Freundin lag still, leblos wie ein Treibholzsplitter.
    Sanft hob Shallia Malashas eisige Hand – die Hand, die sie in der Nacht ihrer Begegnung so gern berührt hätte. In diesem Moment
     öffneten sich Malashas Lider einen Spalt. Doch das einst so helle Leuchten dahinter war fast verschwunden.Shallia blinzelte ihre Tränen weg und drückte die Hand. Sie wusste wie zuvor, dass sie nicht zu reden brauchte, damit ihre
     Freundin sie verstand. Und sowieso wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte nur dastehen, leiden und hoffen.
    Aber bald konnte sie auch kaum mehr hoffen. Malashas Augen schlossen sich wieder so endgültig, wie die Sonne hinter dem Horizont
     versinkt. Die Menschen im Kreis senkten die Köpfe. Der anhaltende Gesang verklang langsam, schwand wie das Leben des jungen
     Mädchens.
    Shallia drückte die Hand ihrer Freundin an die Brust. »Stirb nicht«, flehte sie. »Ich will, dass du wieder lebst. Dass du
     wieder atmest.«
    Atme wieder
.
    Irgendwo in Shallias Erinnerung prustete ein Wal, der die gleiche neblige Luft atmete wie die beiden neu gefundenen Freundinnen.
    Atme wieder.
    Während sie die schlaffe Hand hielt, überlegte Shallia, dass Atem nicht nur Luft und nicht nur Körper war, sondern noch etwas
     mehr. Etwas,

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