Merlin und der Zauberspiegel
Tonschale auf ihn zu.
Behutsam nahm er sie aus der Luft, griff hinein und zog eine winzige Kugel heraus. Sie war dunkelbraun, leuchtete aber mit
einem unheimlichen Glanz, der wie ein lebendiges Herz zu pulsieren schien. Es war, das wusste ich sofort, ein Samen.
»Die Wunder dieses Samens«, erklärte der Zauberer, »sind gleichzeitig zu subtil und zu ungeheuer, um sie zu benennen, obwohl
in künftigen Jahren viele Barden es versuchen werden.«
Langsam rollte er ihn zwischen den Fingern. »Auch seine Geschichte ist ungeheuer, deshalb will ich dir jetzt nur ein wenig
davon erzählen. Dieser Samen wurde im alten Logres auf dem Grund eines tiefen Bergsees entdeckt, möglicherweise von Rheged
von Sagremor; heimlich von einem unbekannten Druiden zur Insel Ineen gebracht, wo er viele Jahre blieb; gestohlen von der
strengen KöniginUnwen vom Reich Powyss; schließlich verloren; gefunden; wieder verloren; und wieder gefunden von einem jungen Pagen nach der
schrecklichen Schlacht von Camlann direkt hier in Gramarye.«
Er lächelte kurz, aber ob es ein freudiges oder ein trauriges Lächeln war, konnte ich nicht sagen. »Ach, Junge«, fuhr er fort
und rollte die kleine Kugel in seiner Handfläche. »Ich könnte so viel mehr erzählen – doch nichts ist wichtiger als das: Dieser
Samen enthält die Kraft, zu etwas Großartigem zu wachsen. Zu etwas wahrhaft Großartigem.«
Ich beugte mich auf dem Hocker näher zu ihm. »Kannst du mir nicht verraten, was das sein wird?«
»Nein, das kann ich nicht.«
Ich runzelte die Stirn. »Und du wirst mir auch nichts über die verlorenen Flügel sagen?«
Er schüttelte den weißen Kopf. »Ich werde dir jedoch noch eins über diesen Samen sagen. Wenn es dir gelingt, genau die richtige
Stelle zu finden, wo du ihn einpflanzt, wird er eines Tages erstaunlichere Früchte tragen, als du dir vorstellen kannst. Und
doch wird es selbst in der besten Erde viele Jahrhunderte dauern, bis er auch nur anfängt zu sprießen.«
Er reichte mir den Samen und schloss meine Finger darüber. Durch meine Hand spürte ich eine schwache Bewegung, ein leichtes
Klopfen an meiner Haut. Behutsam legte ich die kleine Kugel in meinen Lederbeutel.
Dann schaute ich zu meinem älteren Ich auf. »Wenn es, wie du sagst, Jahrhunderte dauert, bis er sprießt, und viel Zeit davor,
bis ich die Stelle gefunden habe, wo er gepflanzt werden soll, dann . . .«
»Ja?«
»Dann sollte ich bald anfangen zu suchen, meinst du nicht auch?«
Als er nickte, schienen die Sterne auf seinem Umhang zu funkeln. »So bald du willst, mein Junge.«
Er klaubte ein dürres Blatt aus seinem Bart und warf es beiseite. »Merk dir das über Samen – und auch über Zauberer. Sie können
die Welt verändern, oh ja. Aber nur in dem Maß und auf die Weise, wie der Träger dieser Samen sich selbst verändert.«
Er zog die Brauen zusammen. »Und noch etwas solltest du wissen.« Er beugte sich zu mir und flüsterte: »Trotz all ihres Intrigierens,
trotz all ihrer Hinterlist hat Nimue nicht mit dieser Wendung der Ereignisse gerechnet: Wir sind uns begegnet, du und ich!
Und weil wir uns begegnet sind, sind wir gewarnt.«
»Das verstehe ich nicht.«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hast ein sehr langes Leben vor dir, mein Junge. Selbst ungeachtet der Jahre,
die du hinzufügen wirst, wenn du lernst rückwärts zu leben! Das gibt dir die einzige Waffe, die doch noch über Nimue triumphieren
könnte – über jeden Zauberspruch, egal wie mächtig. Es ist eine Waffe, die jeden Knoten lösen, jedes Denkmal zerstören, jedes
Reich vernichten – oder ein neues aus der Asche erbauen kann.«
Ich schaute auf die Streitaxt an der Wand, die im wechselnden Licht glänzte. »Welche Waffe meinst du?«
»Die Zeit.« Er klopfte auf den Baumstamm unter sich. »Die Zeit gibt dir – uns – eine Chance. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Mein Schicksal, verstehst du, ist vielleicht nicht deines! Du hast immer noch die Freiheit derWahl, genau wie ich sie hatte. Aber jetzt weißt du einiges, was ich nicht wusste. Also wählst du vielleicht, nur vielleicht,
weiser als ich – und gehst Nimues Fallen aus dem Weg, so verlockend sie auch sein mögen, wenn die Zeit gekommen ist.«
Ich spürte einen Hoffnungsfunken und nahm seine ausgestreckte Hand. Meine Finger, so viel glatter und runder, umschlangen
seine. Unsere Hände schienen sehr verschieden und doch sehr ähnlich. Ich spürte die brennende Leidenschaft
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