Merlin und die Feuerproben
stürzte.
Kaum hatte ich mich mit zitternden Knien aufgerichtet, da waren Eremon und Hallia neben mir. Der Hirsch stieß mich besorgt
an. Meine Flanke war weniger verletzt als mein Stolz, und so machte ich ein paar Schritte, um ihm zu zeigen, dass ich mir
nichts getan hatte. Was Hallia anging – nun, es war mir wirklich gleichgültig, was sie dachte.
»Komm«, dröhnte Eremon und zog die langen Lippen hoch. »Wir müssen den Bach überqueren. Mit ein bisschen Glück sind wir vor
der Dunkelheit ein gutes Stück weit in der Ebene.«
Er sprang mit vorgelegten Lauschern zum glänzenden Wasserlauf und setzte mit einem Sprung darüber. Hallia folgte, ein Bild
der Anmut. Ich sprang wesentlich weniger elegant hinterher. Zwar versuchte ich so mühelos wie die anderen über den Bach zu
setzen, doch meine Hinterläufe platschten ins kalte Wasser und bespritzten meine Unterseite. Ich hastete das Ufer hinauf und
gab mir alle Mühe, nicht zurückzubleiben.
Eremon führte uns eine Weile genau nach Süden, den Weg über die Wiesenterrassen zurück, den Rhia und ich gerade am Vortag
gekommen waren. Mit der Zeit ging mir der Rhythmus unseres Laufs durch die hohen Gräser und spät blühenden Lupinen in Muskeln
und Knochen über. So allmählich, dass es mir gar nicht auffiel, bewegte ich mich weniger hölzern, weniger wie ein dreidimensionaler
Körper, sondern leicht wie die Luft.
Der Herbstbeginn färbte die Gräser schon bräunlich und während ich sie durchstreifte, wurde mir bewusst, dass ich gut sehen
konnte. Sehr gut. Ich war nicht mehr auf mein zweites Gesicht angewiesen, das tagsüber nie meinem früheren Sehvermögen entsprach,
und genoss jetzt die Einzelheiten, die Umrisse, die Strukturen. Manchmal lief ich sogar langsamer, nur um etwas genauer anzusehen:
Tautropfen an einem Spinnennetz, Grasbüschel, die sich so anmutig wie ein Regenbogen neigten, fliegende Samen im Wind. Ob
meine Augen immer noch pechschwarz waren oder braun wie die meiner Gefährten, wusste ich nicht. Doch das spielte überhaupt
keine Rolle, endlich waren sie offene Fenster zur Welt.
Noch besser als meine Sehkraft war mein Geruchssinn geworden. Vertraute Aromen kamen von allen Seiten auf mich zu. Ich roch
erleichtert die schwindenden Rauchspuren, während wir uns vom Zwergenland entfernten. Und ich nahm gierig die feinen Düfte
des strahlenden Herbsttags auf: ein eiliges Flüsschen; ein alter Bienenstock im Stamm einer Birke; ein Fuchsbau, zwischen
den Wurzeln eines Stechginsters versteckt.
Doch mein neuester Sinn war, so kam es mir vor, mein Gehör. Geräusche, von denen ich nie gewusst hatte, dass es sie gab, fluteten
in einem ständigen Strom über mich hinweg. Ich hörte nicht nur das anhaltende Stampfen meiner Hufe und den charakteristischen
Rhythmus der Hirschhufe vor mir – sondern auch den Nachhall in der Erde. Im Laufen fing ich das Schwirren von Libellenflügeln
und das Huschen von Mäusebeinen auf.
Als die Sonne sich den Hügeln im Westen näherte,merkte ich, dass mein Gehör sich nicht auf wache Ohren beschränkte. Auf geheimnisvolle Weise hörte ich nicht nur Geräusche,
sondern das Land selbst. Nicht mit den Ohren, sondern mit den Knochen vernahm ich, wie die Erde unter meinen Hufen sich spannte
und bog, wie sich die Windströmung änderte. Ich verstand die geheimen Verbindungen zwischen allen Geschöpfen auf diesen Wiesen
– ob sie krochen, glitten, flogen oder liefen. Ich hörte sie nicht nur; ich feierte sie, denn wir waren so fest miteinander
verbunden wie ein Grashalm mit der Scholle.
XV
DIE BEDEUTUNG DER FÄHRTEN
D ie Sonne hatte fast den Horizont erreicht, als Eremon sein mächtiges Geweih dem Nebelstreifen zuwandte, der, wie ich wusste,
die Ufer des unaufhörlichen Flusses anzeigte. Während ich folgte, wurde das Rauschen und Tosen der Stromschnellen lauter.
Nebelarme kreisten mich ein. Ich lief langsamer und merkte, dass der Hirsch uns zu der Furt gebracht hatte, die ich gut kannte.
Die gleiche seltsame Sehnsucht nach den großen Steinen am Flussrand überkam mich wieder, die ich zuvor bei Rhia gespürt hatte.
Obwohl ich die stürzenden Fluten deutlich hören konnte, sah ich den Fluss noch nicht durch den wabernden Nebel. Das braune
Fell von Eremon und Hallia glänzte vor Schweiß, als die beiden auf eine Stelle mit dunkelgrünem Schilf zutrabten. Liebevoll
stieß Hallia mit ihrer Schulter an die des Bruders. Dann senkten sie die Köpfe und ästen im Schilf.
Als
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