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Merlin und die Feuerproben

Merlin und die Feuerproben

Titel: Merlin und die Feuerproben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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ich näher kam, hob der Hirsch das Geweih und begrüßte mich mit anerkennendem Nicken. »Du lernst laufen, junger Falke.«
    »Ich lerne hören.«
    Hallia schien nicht auf uns zu achten und riss Schilfbüschel aus. Ihre Zähne mahlten laut.
    Auch ich fing an am Schilf zu knabbern. Es schmeckte fast bitter, doch ich spürte beinah sofort neue Kraft in denGliedern. Selbst der samtige Belag meines Geweihs schien zu prickeln. Ich biss kräftiger zu.
    Kauend nickte ich beifällig. »Was ist das,
knirschknirschknirsch,
für eine Binse?«
    »Seegras«, antwortete Eremon zwischen zwei Maulvoll. »Von den Tagen, in denen mein Stamm der Hirschmenschen am Meer lebte.
     Spürst du es auf der Zunge? Es fühlt sich an wie die getrocknete Haut eines Aals.«
    Er riss ein paar Halme aus und kaute eine Weile nachdenklich. »Obwohl wir nicht mehr an der Küste leben, haben wir den Namen
     des Schilfs beibehalten – und viele seiner Verwendungsmöglichkeiten. Wir flechten daraus unsere Körbe, weben unsere Vorhänge
     und unsere Kleidung. Zerrieben, zerstoßen und mit Haselnussöl vermischt benutzten wir es an Winterabenden zum Anfeuern. Es
     begrüßt unsere Kinder als Decke bei ihrer Geburt und schickt sie als Beerdigungsschal bei ihrem Tod auf die lange Reise.«
     Seine schwarze Nase stöberte in einem anderen Büschel. »Doch am besten verwendet man es einfach als Nahrung.«
    Plötzlich schrie Hallia laut auf. Sie machte einen Satz und schüttelte wild den Kopf. Eremon war schon neben ihr, als sie
     auf dem Boden landete, und streichelte mit der Nase ihren Hals. Wimmernd warf sie den Kopf hin und her.
    »Was ist, meine Schwester?«
    »Ich muss auf etwas gebissen haben – oh, das tut weh! Ein Stein oder so etwas. Ich glaube, ich habe   … mir einen Zahn abgebrochen.« Zitternd machte sie das Maul auf. Blut bedeckte einen ihrer hinteren Zähne und lief ihr über
     die Lippe. »Oh   … das tut weh. Schmerzt.« Sie stampfte mit dem Huf auf. »Warum jetzt?«
    Eremon schaute mich besorgt an. »Ich weiß nicht, wie man eine solche Wunde behandelt.«
    Hallia schüttelte immer noch den Kopf und trat gegen das Schilf. »Ich gehe   … ah!   … zu Miach dem Gelehrten. Er wird   …«
    »Zu weit«, unterbrach sie der Hirsch. »Miachs Dorf ist mehr als eine Tagereise von hier entfernt.«
    Ein Schauder durchlief sie. »Dann heilt es vielleicht – oh! – mit der Zeit von selbst.«
    »Nein, nein«, sagte Eremon. »Du musst Hilfe suchen.«
    »Aber wo? Soll ich einfach   … losziehen?« Sie schloss fest die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sammelten sich Tränen an ihren Wimpern. »Ich will   … bei dir bleiben.«
    Ich mischte mich ein. »Warte. Ich beherrsche zwar keinen eigenen Zauber mehr, aber ich verstehe ein wenig vom Heilen.«
    »Nein!«, schrie Hallia. »Ich lasse mich nicht heilen von   … ihm.«
    Eremon sah sie ernst an. »Lass es ihn versuchen.«
    »Aber er könnte   …« Sie schauderte. »Er ist   … ein Mensch!« Vorsichtig rollte sie die Zunge zusammen und fuhr über den abgebrochenen Zahn. »Oh, Eremon!« Sie warf den Kopf
     hoch und schwieg einen langen Augenblick. Schließlich sagte sie matt: »Vertraust du   … ihm wirklich?«
    »Ja.«
    »Nun gut«, flüsterte sie. »Lass es ihn   … versuchen.«
    Ich stampfte mit dem Huf auf den Boden. »Hände. Ich brauche Hände. Wie verwandle ich mich?«
    »Fang einfach an zu gehen«, antwortete Eremon. »Undkonzentriere deinen Willen darauf, Menschengestalt anzunehmen.«
    Obwohl mir das Herz schwer war bei dem Gedanken, meine neugefundenen Sinne zu verlieren, und sei es nur kurz, drehte ich mich
     zu der Gegend um, über die wir gesetzt waren. Ich sprang in die Nebelvorhänge und versuchte mich zu erinnern, wo ich die zusammengerollten
     gelben Blätter gesehen hatte – die Pflanze, die meine Mutter
die Decke des Verletzten
nannte. Ich hatte oft gesehen, wie sie damit Schmerzen stillte, allerdings nie an einem Zahn. Ich konnte es nur versuchen   … und hoffen.
    Nach ein paar Schritten wurden meine Hufe flacher, mein Rücken bog sich nach oben und mein Hals verkürzte sich. Meine Bewegungen
     fühlten sich plötzlich abgehackt, zusammenhanglos an. Und mein Atem – weniger tief. Bald stapften meine Stiefel, noch nass
     von dem Bad im Bach, auf dem Gras.
    Als der Nebel sich etwas verzog, schaute ich mich nach den gelben Pflanzen um, an die ich mich erinnerte. Mehrere Minuten
     lang suchte ich – ohne Erfolg. War meine Sehkraft zu gering, um sie zu entdecken?

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