Merlin und die Feuerproben
»Menschen können manchmal …«
»Hinterlistig sein«, ergänzte sie.
Sein Geweih neigte sich zur Seite. »Willst du damit sagen, ein Hirsch sei nie hinterhältig? Würdest du nie einen Feind in
die Irre führen?«
Das Damtier reckte den Hals. »Nur um mich zu verteidigen.« Sie schaute zum nächsten Eierrest zwischen den Nebelschwaden hinüber.
»Oder eines Tages meine Jungen.«
Ich ging zu dem zerstörten Ei. Als ich ein Stück Schale zur Seite getreten hatte, erstarrte ich. Vor mir lag ein abgetrennter
Arm, die Klauen waren wie Finger ausgestreckt. Er war nicht viel anders geformt als mein eigener, aber mindestens zweimal
so groß. An der Unterseite war ein Kamm aus schillernden purpurroten Schuppen, das Handgelenk wirkte so zierlich wie ein Schwanenhals.
Die Klauen schienen nach etwas zu greifen, das gerade außerhalb ihrer Reichweite war.
Etwas an diesem leblosen Arm weckte in mir den Wunsch, ihn zu berühren. Mit meinen eigenen Händen, meinen eigenen Fingern.
Ich kniete mich nieder und streichelte ihn. Der Arm fühlte sich weich an trotz der Schuppenreihen. Fast wie das rundliche
Bein eines neugeborenen Säuglings. Vor nicht langer Zeit war es lebendig gewesen. Und jung. Und unschuldig.
Endlich verstand ich die ganze Entsetzlichkeit dieser Tragödie. Kein Leben, kein Geschöpf, keine Zukunft verdiente es, so
zerstört zu werden. So gemordet zu werden. Kein Wunder, dass Valdeargs Zorn keine Grenzen kannte.
Ich sagte mir die Zeilen von Tuathas Prophezeiung vor:
So grenzenlos ist seine Kraft,
sein Wüten so maßlos und ohne Besinnen,
weil Valdearg seine Träume rächt,
die sterben, bevor sie zu leben beginnen.
Gleich nach dem Erwachen
sieht er den Verlust,
nur Gier nach Bestrafung
ist ihm bewusst.
Plötzlich hob Eremon ruckartig den Kopf, von seinem Geweih sprühten Wassertropfen. Er und Hallia standen starr wie Statuen.
Sie spürten etwas, fühlten etwas, das mir völlig entging.
Dann hörte ich ein Geräusch, tief und schabend, als würde ein ferner Vulkan ausbrechen. Es kam von irgendwo weit jenseits
des Flusses, doch es wurde ständig lauter. Ein Wind kam auf; die Luft wurde fast unmerklich wärmer. Ich fing einen schwachen
Rauchgeruch auf. Plötzlich verdunkelte ein riesiger Schatten den sich rötenden Nebel.
»Der Drache!«, rief Eremon. »Lauft!«
Die beiden Hirsche stoben los und sprangen in den Nebel, während ich über den glatten Damm stolperte. Donnergrollen zerriss
die Luft, als der Schatten vorüberzog. Entsetzt nahm ich mir vor, mich in einen Hirsch zu verwandeln – da rutschte ich im
Schlamm aus und verlor das Gleichgewicht. Ich rollte zum Flussrand hinunter. Eisige Wellen liefen mir über die Beine und über
mein Schwert. Atemlos kam ich wieder auf die Füße und rannte durch das seichte Wasser.
An einem steilen Abschnitt des gegenüberliegenden Damms entdeckte ich einen Überhang. Dichtes Gras, nass vom Gischt, hing
über dem Rand. Doch hinter dem Gras gähnte eine dunkle Stelle, wo der Fluss die Erde fortgewaschen hatte. Eine Höhle!
Der Lärm über mir schwoll zum Gebrüll, als ich in die Höhle stürzte und auf dem Schlamm immer weiterrollte, bis ich an die
gewölbte Wand des Damms stieß. Einen Augenblick lag ich keuchend im Dunkeln. Dann fühlte ich die Kälte vom Fluss, setzte mich
auf und zog die Knie an die Brust. Mit einer gewissen Befriedigung spähte ich durch den tropfenden Grasvorhang. Ich war Valdearg
entkommen. Natürlich nur vorübergehend. Doch selbst ein paar Tage Aufschub des Unvermeidlichen war Grund genug für ein wenig
Stolz.
Ich horchte auf den tosenden Strom draußen und war dankbar für die Sicherheit dieser Höhle. Sie war eng und sie stank … irgendwie ranzig. Doch wer konnte ein besseres Versteck verlangen? Da streifte unversehens etwas mein Bein.
XVII
MACHTLOS
E rschrocken wich ich zurück. Ich packte das Heft meines Schwerts und versuchte es aus der Scheide zu ziehen. Aber die Scheidenspitze
war so mit Lehm verstopft, dass ich die Klinge nicht herausbekam. Unter die niedrige Decke geduckt riss ich immer wieder erfolglos
am Heft.
Nichts wie raus aus der Höhle! Jetzt, so lange es noch möglich war. Bevor das, was sich geregt hatte, sich wieder meldete.
Doch … ich zögerte. Hinter dem Grasvorhang könnte Valdearg auf mich warten. Wieder zerrte ich an meinem Schwert. Wieder rührte
es sich nicht.
Plötzlich schallte durch die Höhle ein Laut, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Teils
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