Merlin und die Feuerproben
Das Drachenauge
öffnete sich einen kleinen Spalt, das Lid flatterte und schloss sich wieder, aber erst nachdem ich den qualvollen Blick gesehen
hatte.
Ich biss mir auf die Lippe und zögerte. Dann … kroch ich langsam, ganz langsam näher. Vorsichtig legte ich die offene Hand über das Auge und streichelte die zarten Wimpern.
Das Auge öffnete sich nicht. So sanft wie möglich streifte ich mit der Hand über die lavendelfarbenen Schuppen der Nase und
hielt bei den riesigen Nasenlöchern an. Meine ganze Hand bedeckte sie kaum. Ein schwacher Lufthauch wärmte meine Finger –
und erinnerte mich an dieses Pferd meiner Kindheit, dessen Name ich nicht mehr wusste; aber seinen nebligen Atem hatte ich
nie vergessen. Der Atem dieses Geschöpfs, das merkte ich, wurde jedoch immer schwächer.
Und wenn noch ein winziger Lebensfunke in ihm war? Vielleicht konnte ich … Aber nein! Ich hatte keine Zauberkraft mehr. Mit zusammengebissenen Zähnenverfluchte ich Urnaldas Niedertracht. Hätte sie meine Gaben nicht gestohlen, hätte ich vielleicht den Himmel über mir und
die Erde unter mir anrufen können – aus beiden strömte die Kraft des Verbindens, die Fäden des Kosmos verweben und selbst
die tiefste Wunde heilen konnte.
Schlaff rutschte meine Hand von der Drachennase. Ich konnte weder diese Kraft noch andere nutzen. Und ich konnte nichts für
dieses unglückliche Geschöpf tun. Hilflos! Ich seufzte und spürte mehr denn je die schmerzende Leere in meiner Brust.
Etwas zog an meiner Hand. Eine Schuppe des Drachen hatte sich an dem Rankenarmband verfangen, das Rhia mir zum Abschied geschenkt
hatte. Selbst im schwindenden Licht glänzte das Armband leuchtend grün. Was hatte sie gesagt, als sie es mir ums Handgelenk
gebunden hatte?
Das wird dich an alles Leben um dich herum erinnern und an das Leben in dir.
Ich schloss die Augen und hörte wieder ihre Stimme.
Das Leben in dir.
Doch … was nützte das einem anderen?
Fast aus Gewohnheit griff ich in meinen Lederbeutel und holte eine Hand voll Kräuter heraus. Ich zerrieb sie zwischen den
Handflächen, so gut ich konnte. Sofort strömten Düfte von Ebereschenrinde, Buchenwurzel und Silberbalsam in die ranzige Höhlenluft.
Dann zog ich mühsam einen meiner Stiefel aus. Ich benutzte ihn als provisorische Schüssel, warf die Kräuter hinein und sammelte
sie im Absatz. Ich drückte ein bisschen Wasser aus meiner durchnässten Tunika in den Stiefel, mischte alles gründlich mit
dem Finger und beugte mich näher zu dem Drachen. Da sein Kopf auf der Seite im Schlamm lag, konnteich ihm ein paar grüne funkelnde Tropfen ins halb geöffnete Maul schütten.
Als die Tropfen seine Zunge berührten, wartete ich darauf, dass er schluckte. Doch er rührte sich nicht.
Wieder schüttete ich etwas von der Arznei aus meinem Stiefel. Und ich wartete hoffnungsvoll auf irgendein Lebenszeichen. Doch
der Drache schluckte nicht. Rührte sich nicht. Stöhnte nicht.
»Schluck!«, befahl ich, meine Stimme hallte dumpf zwischen den feuchten Wänden. Ich goss noch ein paar Tropfen auf die Zunge,
sie glitten herunter und fielen zu Boden.
Noch lange nachdem die letzten Strahlen des Zwielichts verschwunden waren, noch die unversöhnliche Nacht hindurch versuchte
ich es weiter. Der Rücken tat mir weh, mein schuhloser Fuß schmerzte vor Kälte und mir war schwindlig vor Schlafmangel. Doch
ich hörte nicht auf, auch wenn ich kaum zu hoffen wagte, dass das Lid wieder flattern und das orange Augenlicht die Höhle
wieder erleuchten würde. Oder dass der Drache tatsächlich etwas schlucken könnte. Aber meine Hoffnungen wurden enttäuscht.
Als meine Arznei schließlich aufgebraucht war, versuchte ich mit langsamen, kreisförmigen Bewegungen den Nacken des Drachen
zu massieren, wie es meine Mutter einst bei mir getan hatte – vor langer Zeit, als ich mich im Fieber gewälzt hatte. Es half
nichts. Bis auf die seltenen, stockenden Atemzüge, die stündlich matter wurden, zeigte der Drache kein Lebenszeichen.
Als die ersten zaghaften Strahlen der Morgendämmerung in die Höhle drangen, wusste ich, dass alle meineAnstrengungen vergeblich waren. Ich betrachtete die reglose Gestalt und bewunderte die geschmeidige Schönheit der Schuppen,
den wilden Schwung der Klauen. Der Nestling lag völlig ruhig, völlig still da.
Niedergeschlagen wandte ich mich ab. Die Atmosphäre in dieser Höhle widerte mich jetzt an. Wie das Trümmerfeld jenseits des
Flusses stank
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