Merlin und die Feuerproben
und ich. Dann bemerkte ich, dass die Luft um uns angefangen hatte zu zittern, zu schimmern wie der Nebelschleier, der diese
Welt von der Anderswelt trennte. Ich spürte, dass eine andere Gegenwart, noch weniger fassbar als der Nebel, bei uns war.
Hallia hob den Kopf, zuerst zweifelnd, dann überrascht, als sie merkte, dass sich etwas im Körper ihres Bruders veränderte.
Seine glänzenden Muskeln entspannten sich. Sein Gesicht, jetzt ganz friedlich, neigte sich leicht, als horche er auf geflüsterte
Worte. Als er schließlich sprach, lag immer noch Kummer in seiner Stimme. Doch sie war volltönend wie zuvor und hatte einen
neuen Klang, den ich nicht recht definieren konnte.
»Meine Schwester, die Geister sind gekommen – um mich mitzunehmen, mich auf der langen Reisen zu führen. Doch bevor ich gehe,
sollst du wissen, dass auch ich einen Traum hatte. Einen Traum … von einer Zeit, in der du vor Freude überströmst, wie der Fluss im Frühling von Wasser überströmt.«
Hallias Kopf sank tiefer und berührte fast seinen. »Ich kann mir eine solche Zeit ohne dich nicht vorstellen.«
Er atmete langsamer und sprach mit größerer Anstrengung. »Diese Zeit … wird kommen, Eo-Lahallia. Und in den Tagen davor, in deinen Momenten der Angst und in deinen Momenten der Stille … werde ich selbst zu dir kommen.«
Sie schloss die Augen und wandte sich ab.
Eremons Huf zitterte und streifte meine Hand. »Sei … tapfer, junger Falke. Finde den Galator. Du hast mehr Kraft … als du weißt.«
»Bitte«, bat ich. »Nicht sterben.«
Die tiefen braunen Augen schlossen sich, dann flatterten kurz die Lider. »Mögen grüne Wiesen … dich finden.«
Er atmete ein letztes Mal aus, dann lag er still.
XIX
DER WIRBELWIND
E remons Blut lief Hallia und mir über die Arme, während wir uns im Nebel abmühten den schweren Körper des Hirschs zu einer
geschützten Biegung am Flussufer zu tragen. Dort wuchs grünes Gras und dort gruben wir sein Grab in die feuchte, schwere Erde.
Hallia wob aus Seegras einen Beerdigungsschal, den sie ihrem Bruder sorgsam um den Hals legte. Nachdem ich das Grab aufgefüllt
hatte, ging ich daran, es vor Störungen zu schützen. Obwohl ich erschöpft war, schleppte ich mehr als ein Dutzend Steine herbei.
Schwere. Doch so sehr mein Rücken auch schmerzte, mein Herz schmerzte noch mehr.
Während ich arbeitete, stand Hallia schweigend am Grab, hin und wieder lief ihr eine Träne zum Kinn hinunter. Sie sagte nichts,
aber manchmal zerrte sie am Stoff ihres gelben Gewands oder stampfte auf den Boden, Beweise für die heftigen Stürme, die in
ihr tobten. Als ich genug Steine gesammelt hatte, blieb ich in der Nähe stehen und wagte kaum, sie anzuschauen, geschweige
sie zu trösten.
Endlich sagte sie, ohne den Blick vom Grab ihres Bruders zu heben: »Er nannte dich
junger Falke
.«
Schweigend nickte ich.
»Der Name hat in meinem Volk eine Bedeutung.«
Ich sagte nichts.
Immer noch ohne mich anzuschauen sprach sie weiter, ihre Stimme klang wie von weit her. »Es gibt eine Geschichte, so alt wie
die erste Fährte des ersten Hufs, über einen jungen Falken. Er freundete sich mit einem Rehkitz an. Brachte ihm Nahrung, als
es sich am Fuß verletzt hatte, führte es nach Hause, als es sich verirrte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dein Bruder glaubte an mich. Mehr als ich.«
Aus ihren runden Augen warf sie mir einen kurzen Blick zu. »An mich auch.« Sie seufzte schwer. »Ich nehme an, bald wirst du
gehen.«
»Ja.«
Sie warf ihren Zopf über die Schulter. »Nun, wenn du glaubst, ich komme mit, dann irrst du dich.«
»Ich habe dich nie gebeten …«
»Gut. Denn meine Antwort wäre Nein gewesen.« Sie trat gegen einen der Flusssteine. »Nein, sage ich.«
Einen langen Augenblick betrachtete ich sie. »Ich habe dich nicht gebeten, Hallia.«
»Du nicht, aber
er
.« Wütend schaute sie die Steine an. »Er hat mich gebeten. Nicht mit Worten, sondern mit seinen Augen.«
»Du solltest nicht mitkommen. Du hast genug gelitten.«
Sie senkte den Kopf. »Das stimmt.«
Ich sah mein Schwert am Ufer liegen, hockte mich neben den Fluss und spülte den Schlamm von der Klinge. Niedergeschlagen steckte
ich es in die Scheide zurück. Dann ging ich langsam zu Hallia hinüber, meine Füße fühlten sich schwerer an als die Steine,
die ich auf Eremons Grab gelegt hatte. Sie rührte sich nicht, beobachtetemich nur mit ihren klugen, traurigen Augen. Einen Schritt entfernt blieb
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