Merlin und die Fluegel der Freiheit
wandte
ich mich wieder an den Schatten. »Ich bewillige dir jedes Jahr eine ganze Woche Urlaub, in der du gehen kannst, wohin du willst,
und jeden Unfug treiben kannst, der dir in den Sinn kommt.«
Hämisch nickte mein Schatten mit dem langen Kopf. Dann kam er vom Hang herunter und ging auf der gefrorenen Erde an mir vorbei.
Er fiel in einen hüpfenden Laufschritt, eilte mit überraschender Geschwindigkeit nach Nordwesten und verschwand schnell mit
der Sonne.
XIX
DER GEIST DES NEBELS
W ährend ich zu meinem Treffen mit Shim an die Südküste wanderte, kam ich an vielen kahlen Bäumen vorbei, die im Wind ächzten,
und an mehreren gefrorenen Teichen – aber sehr wenige lebende Geschöpfe waren unterwegs. Einmal beobachtete ich einen Fuchs,
der mit aufgerichtetem buschigem Schwanz über ein beschneites Feld trottete; einmal sah ich zwei winzige Leuchtfliegen, die
hinter einen Stein flitzten. Aber das war alles. Bei der Furt des unaufhörlichen Flusses fand ich seltsame Fährten, tiefe
Spuren, die wie Klauenabdrücke in die Erde gepresst waren und nach Osten führten. Ich hatte keine Ahnung, von wem sie stammen
konnten, auch keine Zeit, es herauszufinden.
Unter dem anschwellenden Mond wanderte ich bis tief in die Nacht. Die ganze Zeit dachte ich über meinen Plan nach. Konnte
Shim die Kinder rechtzeitig sammeln? Und angenommen, er schaffte es, wie würden wir auf die vergessene Insel kommen? Vielleicht
gelang es uns, irgendein Fahrzeug für die Überquerung des Wassers zu bauen, aber das würde nicht einfach sein. Dann müssten
wir natürlich immer noch durch die Sperre aus Zaubersprüchen kommen. Doch alle diese Ungewissheiten waren mir lieber als die
Vorstellung, dass der Töter mit seinen Angriffen fortfuhr – oder dass ich wieder mit ihm kämpfen musste.
Am zweiten Tag meiner Wanderung bog ich nach Westen ab und folgte dem unaufhörlichen Fluss. Sogar im Winterrauschten und schäumten seine Wasser. Manchmal sah ich verschwommene Bewegungen im Sprühnebel und überlegte, ob Flussgeister
unterwegs waren, aber ich war mir nicht sicher. Während ich nach Süden ging, ließ die Kälte nach und der Schnee verschwand
von den Ufern. Doch der Winter hatte weiterhin das Land fest im Griff. Selbst als ich durchs Überschwemmungsgebiet kam, wo
der Fluss sich zu Sumpfland ausweitete, das in anderen Jahreszeiten von Tieren und Vögeln wimmelte, sah ich nichts als eine
Schlange, die über ein dürres Rankengeflecht auf dem Boden glitt.
Gerade bevor ich die Küste erreichte, kam im Westen der Drumawald in Sicht. Beim Anblick seiner kräftigen Grüntöne spürte
ich eine Sehnsucht, süß wie Tannenduft, wieder mit meinen liebsten Freunden unter diesen Bäumen zu leben. Doch das war unmöglich.
Im bleichen Licht des Frühnachmittags näherte ich mich der Dünenkette an der südlichen Küste. Ich hatte mein Ziel erreicht,
fast einen Tag vor Shim. Falls er kam. Ich konnte nur warten und mich fragen, wie das alles enden würde.
Ich machte mich daran, die höchste Düne zu erklettern, meine Stiefel und der Stock versanken im Sand. Wie der Panzer einer
großen Schildkröte stieg die Düne zuerst steil, dann allmählich an. Als ich höher kam, hörte ich die Brandung gegen die andere
Seite klatschen. Ein schwacher Salzgeruch belebte die Luft. Ich scheuchte einen schwarzen Kormoran auf, der wütend flatterte
und mit ausgestrecktem Hals zu einem nahen Hügel flog.
Endlich war ich oben. Schwer atmend setzte ich mich und schüttete den Sand aus meinen Stiefeln. Neben mir lag eine große Muschel
mit engen Spiralen auf der Schale, ihre violette Spitze ragte hoch wie ein Speer. Ich wandte michdem Wasser zu und sah nichts als eine schwankende Nebelwand, so dicht, dass sie die Wellen darunter verhüllte. Das war der
Nebel, der ganz Fincayra umgab. Aus diesem Nebel bestanden nach dem Glauben von Hallias Volk die Fäden der Geschichten, die
in den Teppich Caerlochlann gewebt waren. Der Nebel, der sich entsprechend seinem eigenen geheimnisvollen Geist bewegte.
Die Wellen waren zwar verborgen, doch sie kündigten sich an. Einen langen Augenblick hörte ich zu, wie sie wogten und schwappten,
klatschten und stampften. In ihrem eigenen unaufhörlichen Rhythmus atmete die See, wie sie es seit Generationen getan hatte.
Ich wusste, irgendwo dort draußen schwammen die glänzenden Körper der legendären Meermenschen. Sie waren so flüchtig, dass
ich sie bei all meinen Reisen nur zweimal
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