Merlin und die Fluegel der Freiheit
eiligen Wolken am Himmel. In ihren tiefen Farben sahen sie beinahe fest aus,
wie Inseln aus Erde und Stein. Sie wirkten unerreichbar, wie sie da oben schwebten, so völlig getrennt vom Rest der Welt.
Ich blieb stehen und stützte mich auf meinen Stock. Unerreichbar. Getrennt. Entfernt. Das waren die Kennzeichen von Inseln
– und besonders von einer Insel.
Der vergessenen Insel.
Ich atmete aus und blies ein weißes Wölkchen auf meinen Stock, das den eingeritzten Schmetterling im Holz vereiste. Um zu
der Insel zu kommen, würde ich das dichte Netz von Zaubersprüchen durchstoßen müssen, das sie vom übrigen Fincayra trennte.
Das würde nicht einfach sein. Doch genau dieses Hindernis war, falls ich es irgendwie überwinden konnte, der wahre Schutz
für die Kinder.
Trotzdem fragte ich mich, was wir bei unserer Ankunft dort antreffen würden. Ich wusste wirklich fast nichts über den Ort.
Einmal, vor langer Zeit, hatte ein weiser Geist namens Gwri mit den goldenen Haaren gesagt, die goldene Mistel, das Symbol
der Anderswelt, wachse auf der Insel. Mehr hatte sie allerdings nicht enthüllt. Aber wenn die Mistel, der goldene Zweig, dort
blühte, musste das Land zumindest bewohnbar sein.
Ich schüttelte den Kopf. Das waren Probleme für später. Außerdem hatte ich noch immer nicht mein ursprüngliches Problem gelöst
– wie in den restlichen Tagen die Kinder zu finden und irgendwie einzusammeln waren. Falls ich nicht Hilfe fand, und zwar
bald, würde nichts anderes von Bedeutung sein.
Tief in Gedanken schaute ich auf den Boden und folgte dem Umriss meines Schattens. Weil die Sonne fast am Horizontstand, streckte sich die dunkle Form jetzt beinahe bis hinauf auf den Hügel und glich einem schlanken Riesen. Wie ein Blitz
kam mir der Gedanke, wer helfen könnte und wie er zu erreichen war.
»Schatten! Ich brauche dich«, rief ich.
Auf dem rot gefärbten Hügel neigte sich skeptisch der Kopf meines Schattens.
»Hör mir zu«, bat ich so dramatisch wie möglich. »Deine Heimat und meine ist in großer Gefahr, wie du gut weißt. Genau wie
die unschuldigen Kleinen, die sich nur auf sich selbst verlassen können. Ich habe einen Plan, sie zu beschützen, aber dazu
brauche ich deine Hilfe.«
Wie ich gehofft hatte, hob der Schatten den Kopf und seine Brust schien vor Stolz zu schwellen.
»Du musst Shim suchen. Jetzt hör auf, den Kopf zu schütteln! Er ist im Norden bei den Riesen von Varigal. Und es liegt an
dir, ihn aufzuspüren. Hör doch mit dem Kopfschütteln auf! Du musst ihn davon überzeugen, dass er alle Waisenkinder um sich
sammelt, die er finden kann, und alle anderen Kinder, die unbeaufsichtigt umherwandern. Er muss sie zur Küste der sprechenden
Muscheln bringen, bei den Dünen, wo der große Fluss ins Meer mündet. Du kennst die Stelle. Weil ich fast drei Tage brauche
dorthin zu wandern, wollen wir uns in drei Tagen treffen.«
Der Schatten schüttelte zwar nicht mehr den Kopf, aber er stemmte eigensinnig die Hände auf die Hüften. Selbst im bitterkalten
Wind spürte ich seinen eisigen Blick.
»Ich bitte dich. Mit deiner Hilfe könnte es gelingen.«
Die eigensinnige Haltung änderte sich nicht.
»Bitte«, flehte ich.
Der Schatten ging ein paar Schritte weiter, dann drehte er sich zu mir um.
»Was?«, rief ich. »
Was
willst du? Nein, nein, das kann ich nicht! Kommt gar nicht infrage.«
Unnachgiebig verschränkte der Schatten die Arme.
»Empörend«, erklärte ich. »Eindeutig empörend.«
Der Schatten sah mich nur böse an, ich schaute böse zurück.
Die Sonne sank tiefer, damit verblasste das Licht ebenso wie mein Schatten. Ich wusste, dass ich nur noch ein paar Minuten
lang die dunkle Gestalt sehen und mit ihr reden konnte. Nach Sonnenuntergang würde ich das Gespräch erst im Morgengrauen fortsetzen
können. Schließlich wusste ich noch nicht einmal, wo der Schatten seine Nächte verbrachte! An manchem Morgen rechnete ich
halb damit, dass er nicht zurückgekommen war, obwohl es das bis jetzt noch nie gegeben hatte.
»Ach, meinetwegen«, knurrte ich. »Deine Bedingung ist ungerecht. Unwürdig. Und unannehmbar!« Ich funkelte den unverschämten
Schatten an. »Aber ich bin trotzdem einverstanden. Finde Shim und hilf ihm, die Kinder zu sammeln – einschließlich Lleu in
jenem Dorf. Wenn du das machst, werde ich . . .«
Die Worte schienen zu verschwinden wie meine weißen Atemwolken. Ich schaute über die Schulter zur sinkenden Sonne, dann
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