Merlin und die Fluegel der Freiheit
einen Wasserstrom, zur Härte eines Speers konzentriert, zu dem Ungetüm. Meerwasser spritzte
in alle Richtungen. Aber der Tentakel wich schnell zurück, so dass er außer Reichweite war. Zugleich hoben sich andere schlangenförmige
Arme aus den Wellen und wanden sich um die Äste. Seltsam leuchtend zogen sie am Hut, rissen an seinem Gewebe und zogen uns
hinunter. Das Schiff neigte sich gefährlich. Aus der Höhlung hörte ich ängstliche Schreie.
Ich sammelte alle magischen Kräfte in mir und rief den großen Hut an.
Erhebe dich jetzt. Erhebe dich, oh Schiff aus Weide und Ranke!
Ein verirrter Pelikan schoss vorbei und streifte mit seiner Flügelspitze meinen Rücken. Wieder rief ich und drängte den Hut
mit aller Energie, die ich aufbrachte.
Erhebe dich jetzt, über das Meer!
Noch mehr Sprühwasser durchnässte mich und ließ Blut und Knochen die Kälte spüren. Plötzlich merkte ich, dass der Hut anfing
zu vibrieren. Die Schwingungen wurden schnell stärker und lockerten den Halt meiner Beine am Stock. Mit einer heftigen Anstrengung
zog ich mich hinauf auf den Rand.
In diesem Moment fing der bebende Hut an sich zu drehen, langsam kreiste er. Die Drehungen kamen immer schneller. Ein Sprühwasserschwall
nach dem anderen traf mich, ich klammerte mich an den Stock und versuchte dasGleichgewicht zu halten. Dann hörte das Drehen plötzlich auf.
Ein lautes, langes, schlurfendes Geräusch stieg aus dem Wasser unter uns. Der Lärm schwoll an und endete mit einem plötzlichen
Knall. Zugleich hob sich der ganze Hut aus dem Wasser, dabei knarrte und krachte er wie ein Wäldchen im Sturm.
Ich schaute über die Kante und sah große Wasserströme kaskadenartig von den Seiten des Huts stürzen und zurück in die See
fallen. Unser Schiff hing in der Luft, direkt über der Meeresoberfläche. Mehr als ein Dutzend Tentakel streckten sich aus
den Tiefen, sie leuchteten mit grünem Licht, das über die Wellen schimmerte. Die Tentakel spannten sich an und zogen, aber
der Hut bewegte sich nicht. Obwohl ich von der Anstrengung des Zauberspruchs geschwächt war, tat ich alles, damit wir unsere
Position hielten, und murmelte neue Sprüche.
Ein seltsamer, heiserer Schrei stieg aus der See – halb Bellen, halb Zischen und voller Wut. Die Tentakel lösten sich langsam
von den Ästen und gaben uns endlich frei. Zugleich glitten die geschmeidigen Fangarme unter die Wellen. Ihr bedrohliches Licht
blieb kurz zurück, es schwebte direkt unter der Oberfläche, dann verschwand es ebenfalls.
Erschöpft wälzte ich mich auf den Rücken. Als ich wieder ruhig atmete, horchte ich auf die Wellen unter dem Hut, auf das Geräusch
eines friedlichen Meeres. Unten in der Huthöhlung waren die Stimmen der Kinder leise geworden. Ich hörte, wie einige wieder
hinaus auf den Rand kletterten.
Dann war da ein anderes Geräusch, das mich traf wie eine eisige Welle.
»Helft mir«, rief eine dünne klagende Stimme von irgendwounten, nahe der Wasseroberfläche. »Bitte . . . helft mir.«
Ich nahm alle Kraft zusammen und kroch zurück an die Randkante. Besorgt musterte ich die dunklen Wellen. Ich sah niemanden
– bis ich nicht mehr aufs Wasser, sondern auf die Hutseite schaute. An die triefenden Äste klammerte sich ein zartes kleines
Mädchen.
Cuwenna!
Schnell schlüpfte ich durch eine Öffnung zwischen den Zweigschichten und stieg zu ihr hinunter. Ich zog ihren zitternden Körper
von den Ästen, nahm sie in einen Arm und hielt sie fest. Sehr vorsichtig trug ich sie wieder die Hutwand hinauf und schob
sie durch die Öffnung im Rand, bevor ich ihr folgte. Ich nahm die Jacke meiner Mutter ab, die zwar durchnässt, aber immer
noch warm war, und wickelte sie um Cuwennas schmächtigen Körper.
Sie sah aus blutunterlaufenen, aber strahlenden Augen zu mir auf. »Danke, Merlin«, flüsterte sie.
Ich tippte ihr liebevoll auf die Nase. »Bitte, Kleines. Aber wenn du das nächste Mal schwimmen gehen willst, sag mir vorher
Bescheid.«
Sie zitterte weiter vor Kälte, aber sie lächelte beinahe.
Ich trug sie hinunter in die Höhlung, gab ihr Apfelsaft und legte sie dann in eine stille Ecke, wo sie schlafen konnte. Als
ich wieder oben war, befreite ich den Hut von meinem Zauber – ein Vorgang, der länger dauerte als erwartet. Das lag weniger
an meinen Zaubersprüchen als an Medbas hartnäckigem Wunsch, zuerst zur Unterseite des Huts hinunterzuklettern. Obwohl sie
behauptete, sie wolle sich überzeugen, dass am
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