Merlin und die Fluegel der Freiheit
neben meinen baumeln.
Eine Zeit lang saßen wir einfach da, die Haare von der nebligen Brise zerzaust, während der Hut dahinschwamm. Wir schwiegen
beide und horchten nur auf die Geräusche des klatschenden Wassers und der knarrenden Äste.
Als sie schließlich redete, galt ihr Blick nicht mir, sondern dem dunkler werdenden Nebel. »Wohin bringst du uns, mein Sohn?«
»Das Meer bringt uns, nicht ich. Mit Dagdas Segen sollten wir um die Mitte des Morgens landen.«
»Wo landen?«
Ich horchte auf das ständige Schwappen der Wellen. »Auf der vergessenen Insel.«
Sie verkrampfte sich einen Augenblick, dann entspannte sie sich und schaute mir in die Augen. »Ich glaube an dich, mein Sohn.«
»Ich auch, junger Herr Merlin.«
Lleu duckte sich neben mich, seine Locken flatterten im Wind.
»Setz dich zu uns, Junge.« Ich rutschte näher an Elen. »Hier ist Platz genug.«
Vorsichtig, um nicht mit dem Kopf an mich zu stoßen, setzte er sich auf den Rand. Nebel zog über seine nackten Beine und schlüpfte
zwischen seine Zehen. Mit einem schiefen Grinsen sagte er: »In einem Hut bin ich noch nie gefahren.«
Ich lachte. »So wenig wie ich.«
»Das macht mich neugierig darauf, alles zu sehen, verstehst du das? Die ganze weite Welt und alle Meere dazwischen.«
»Ich wette, eines Tages machst du das.« Ich klopfte ihm auf den Schenkel. »Du bist schon ein richtiger Abenteurer.«
»Nicht so wie du, junger Herr Merlin.«
»Oh, bestimmt hast du schon ein paar Sachen gemacht, von denen ich keine Ahnung habe.« Mit einem Blick auf seinen geschwärzten
Ohrstumpf hätte ich am liebsten hinzugefügt:
und ein paar Sachen überlebt, die ich nicht kenne.
»Irgendwann gehst du, wohin du willst.«
»Vielleicht«, antwortete er und grinste wieder ein wenig. »Aber ich werde es nicht schaffen, dass eine Feder rumfliegt und
deine Nase kitzelt.«
Meine Mutter und ich lachten. »Das schafft du vielleichtauch«, sagte ich. Mein Magen meldete sich und ich wies auf die Höhlung des Huts. »Glaubst du, dort unten ist so viel zu essen,
dass ich ein Abendbrot haben kann?«
Lleu nickte heftig. »Zwanzig, wenn du willst.« Er zog die Beine hoch und kroch hinüber zur Höhlung. Während er versuchte den
anderen Kindern auszuweichen – was nicht einfach war bei dem Schaukeln –, rief er: »Ich bring dir einen oder zwei Laib Brot und vielleicht . . .«
»He, du einohriger Dämlack!« Ein älterer Junge mit muskulösen Armen und vorspringendem Kinn packte ihn grob am Arm. »Gibt
Acht, wohin du trittst! Du hast dein Knie an meine Knöchel geknallt.« Er schwang eine Faust. »Ich glaub, ich mach das Gleiche
mit deinem Gesicht.«
Lleu versuchte sich befreien, kam aber nicht los. »Tut mir Leid, Hervydd«, rief er. »Ich hab dich nicht gesehen!«
»Wie?« Der größere Junge schüttelte ihn brutal. »Dann siehst du vielleicht das.« Er hob die Faust. »Oder vielleicht sollte
ich dein blödes Ohr noch flacher machen.«
»Nein, nein«, schrie Lleu und gab sich alle Mühe, die empfindliche Seite seines Kopfs zu schützen.
Hervydd grinste, er genoss sichtlich seine Macht. Gerade zog er die Faust zurück – da packte ich ihn am Handgelenk. Er wehrte
sich kurz, dann sah er, wer ihn hielt, und gab Ruhe. Trotzdem schaute er mich wütend an, weil ich ihm den Spaß verdorben hatte.
In meinen Schläfen pochte es, als ich befahl: »Lass ihn los.«
»Ach, ich wollte ihm eigentlich gar nichts tun.«
»Lass ihn los«, wiederholte ich durch zusammengebissene Zähne.
Der Junge gehorchte und drückte Lleu dabei grob gegen die dornigen Äste. Ich hörte, wie Lleu wimmerte, und sahHervydd finster an. Der beobachtete mich lediglich mit einem frechen Grinsen.
Mein Zorn wuchs aus Mitgefühl mit Lleu . . . und zugleich aus etwas Stärkerem. Dieser Angeber, so grob und uneinsichtig, erinnerte
mich an Dinatius, die Plage meiner Kindheit. Dinatius hatte mich genauso behandelt, als ich nicht älter war als Lleu. Und
immer wenn Elen versucht hatte ihn daran zu hindern, war er so unverschämt gewesen wie Hervydd jetzt.
»Niemand an Bord dieses Schiffes behandelt jemand so«, sagte ich streng.
»Und was willst du machen?«, gab er zurück. »Mich über Bord schmeißen?«
Ich drückte sein Handgelenk fester. Das war nun mal eine verlockende Idee! Natürlich würde ich es nicht wirklich tun – aber
ich wollte ihn immer noch irgendwie bestrafen. Vielleicht könnte ich ihn damit ein bisschen ängstigen.
»Na«, sagte er frech, »machst
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