Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Tausende winziger Muscheln klebten an steinigen Stellen. Riesige rote Seesterne, breitmäulige
Wellhornschnecken und glänzende Quallen lagen überall. Krebse rannten über den Sand und wichen den Vogelfüßen aus.
Ich füllte meine Lungen mit Seeluft und roch wieder den Tang. Und Salz. Und Geheimnis.
Ich bückte mich nach einer Hand voll Sand. Warm und fein rieselte er durch meine Finger. Genau wie damals, an dem Tag, an
dem ich zum ersten Mal hier gelandet war. Damals hatte Fincayra mich willkommen geheißen und mir Zuflucht vor den Stürmen
geboten, vor denen auf See und denen, die hinter meiner Stirn tobten.
Ich nahm ein paar Sandkörner und beobachtete, wie sie meine Fingerspitzen hinunterrollten und in meine Handfläche fielen.
Sie glitzerten hell dabei, fast als wären sie lebendig. Wie meine eigene Haut. Wie Fincayra. Ich merkte, dass ich mich allmählich
mit dieser Insel verbunden fühlte. Auch wenn ich hier so oft unglücklich gewesen war, hing ich zu meiner Überraschung an ihren
eindrucksvollen Landschaften, ihren betörenden Geschichten und – trotz der Art, in der sie mich oft behandelt hatten – ihren
unterschiedlichen Bewohnern. Und an etwas anderem, das schwer zu erklären war.
Diese Insel war, wie meine Mutter zu sagen pflegte, ein
Zwischenort,
wo unsterbliche und sterbliche Geschöpfe zusammenleben konnten. Natürlich nicht immer in Harmonie. Aber mit dem Reichtum,
der Macht und dem Geheimnis beider Welten zugleich. Teils Himmel, teils Erde. Teils diese Welt, teils Anderswelt.
Ich stand da und nahm die Klänge und Gerüche vonFincayras Küste in mich auf. Vielleicht würde ich mich hier eines Tages wirklich wohl fühlen. In mancher Hinsicht tat ich
das jetzt schon, jedenfalls war mir hier wohler als in jenem elenden Dorf in Gwynedd. Wenn nur eine bestimmte Person hier
wäre, könnte ich mich auf Fincayra sogar zu Hause fühlen. Doch im Moment war diese Person weit weg. Jenseits des Nebels, jenseits
der schwarzen, felsigen Küste von Gwynedd.
Ich schwang die Harfe herum und wiegte sie im Arm. Das letzte Mal hatte ich ihre Saiten gezupft, bevor ich die dürren Ebenen
verlassen hatte. Was, fragte ich mich, konnte ich an einem Ort hervorlocken, der so üppig war, so vor Leben wimmelte?
Ich berührte eine Saite, die höchste. Sie klirrte wie ein zerspringender Eiszapfen. Während der Ton in der Luft schwang, wuchs
aus der Meerseite der Düne eine rote Blume, geformt wie eine große Glocke. Ich sah sie in der salzigen Luft schaukeln und
hätte sie zu gern berührt, sie gerochen.
Aber ich hatte keine Zeit. Nicht jetzt. Ich ließ Harfe und Stock in den Sand fallen und überzeugte mich, dass sie nicht in
Bumblewys Reichweite lagen. Er saß schon am Strand und wusch sich missmutig die geschwollenen Füße im Wasser. Sein dreieckiger
Hut, dessen Glocken endlich einmal schwiegen, lag neben ihm. Der Spaßmacher war nicht weit entfernt, doch er schien völlig
beschäftigt zu sein.
Forschend schaute ich in beiden Richtungen über den Strand. Mit jedem Wellenschlag, jedem Zurückweichen des Wassers rollten
Muschelschalen in allen Größen und Farben über den Sand. Die Breite und Schönheit diesesKüstenstreifens schüchterten mich ein wie an dem Tag, an dem ich hier gelandet war. Damals hatte mir eine Muschel von diesem
Strand ein paar Worte zugeflüstert, Worte, die ich kaum begriffen hatte. Würde ich heute wieder eine finden? Und würde ich
verstehen, was sie sagte?
Irgendwo dort draußen war die richtige Muschel. Nur hatte ich keine Ahnung, wie sie aussehen mochte. Ich kannte nur Cairprés
Worte:
Es gibt ein Sprichwort, so alt wie diese Insel, nach dem nur die weiseste Muschel vom Strand der sprechenden Muscheln jemanden
durch den Nebel geleiten kann.
Mit einer gefleckten Schneckenmuschel an meinem Stockende begann ich meine Suche. Flache Muscheln, runde, gewundene, alle
fanden den Weg in meine Hände. Aber keine schien die richtige zu sein. Ich war mir noch nicht einmal sicher, wonach ich suchen
sollte. Ich konnte fast hören, wie Rhia etwas Unsinniges sagte wie
Vertrau den Beeren.
Natürlich war das lächerlich. Doch ich wusste, dass ich auf irgendetwas vertrauen musste. Ich wünschte nur, ich wüsste, worauf.
Vielleicht auf meinen Verstand. Ja, das war es. Also, wie würde die weiseste Muschel aussehen? Sie wäre auffallend. Eindrucksvoll.
Eine Kaiserin der Küste. So groß wie ihre Weisheit.
Bumbelwy schrie auf, als sich eine große Welle
Weitere Kostenlose Bücher