Merlin - Wie alles begann
hatte ich ein wenig, aber längst nicht genug über meine Vergangenheit entdeckt. Und noch weniger
hatte ich über meinen richtigen Namen erfahren. Doch diese unvollendete Suche bedeutete mir jetzt längst nicht so viel wie
der Wunsch, Rhia zu finden. Ich war bereit, meine unbeantworteten Fragen beiseite zu schieben, vielleicht für immer, wenn
ich nur Rhia rechtzeitig fand.
Ich kam an eine Zelle, in der ein Schädel unter einem schweren Stein zertrümmert lag. Dann an eine mit zwei Skeletten, eins
in Erwachsenengröße, das andere klein wie ein Baby, die sich für alle Ewigkeit umschlungen hielten. Ein Raum war völlig leer
bis auf den Blätterhaufen in einer Ecke.
Ich schleppte mich weiter, mit jedem Schritt wuchs meine Verzweiflung. War ich von so weit hergekommen, um nicht mehr zu finden
als verstreute Knochen und einen Blätterhaufen?
Aber halt. Was war das gewesen?
Ein Blätterhaufen.
Ich lief zu der Zelle zurück. Mit heftig klopfendem Herzen spähte ich wieder durch den schmalen Schlitz. Gerade laut genug,
um über dem Rumpeln gehört zu werden, machte ich das Geräusch, das Rhia mir für das Gespräch mit einer Buche beigebracht hatte.
Der Blätterhaufen regte sich.
»Rhia«, flüsterte ich aufgeregt.
»Emrys?«
Sie sprang auf die Füße und stürzte zur Tür. Ihr Rankenanzug war zerfetzt und schmutzig, aber sie lebte. »Oh, Emrys«, sagte
sie ungläubig. »Bist du es oder ist es dein Geist?«
Als Antwort schob ich meinen Zeigefinger durch den Spalt. Vorsichtig schlang sie ihren drum herum, wie sie es so oft zuvor
getan hatte.
»Du bist es.«
»Ja.«
»Lass mich heraus.«
»Zuerst muss ich den Schlüssel finden.«
Rhia sah enttäuscht aus. »Die Wache. Am Eingang. Er hat den Schlüssel.« Ängstlich drückte sie meinen Finger. »Aber er hat
. . .«
»Einen gesunden Schlaf«, ergänzte eine andere Stimme.
Ich fuhr herum. Shim stand vor mir, sein kleines Gesicht strahlte eindeutig vor Stolz. Der kleine Riese streckte die Hand
aus. Darin lag ein großer eiserner Schlüssel.
Ich starrte ihn erstaunt an. »Du hast ihn der Wache gestohlen?«
Shim wurde rot, seine Knollennase nahm fast die Farbe seiner Augen an. »Er haben einen gesunden Schlaf, da sein es nicht so
schwer.«
Ich grinste. Shim war wohl doch nicht so klein, wie er aussah.
Schlüsselklappernd schloss ich die Tür auf. Rhia kam heraus, sie war abgemagert, sah aber erleichtert aus. Sie umarmte mich,
Verdruss und schließlich Shim, dessen Nase sich noch mehr rötete.
Dann fragte sie mich: »Wie kommen wir hier heraus?«
»Das habe ich mir noch nicht überlegt.«
»Dann lass uns damit anfangen.«
»Wenn ich doch den Galator noch hätte.«
»Hast du ihn verloren?«
»Ich . . . habe ihn weggegeben. Damit ich hierher kommen konnte.«
Sogar im Kerker leuchteten ihre Augen. Sie schlang wieder ihren Finger um meinen. »Du hast immer noch uns.«
Zusammen gingen wir auf den Eingang zu. Verdruss flatterte an meinem Hals. Auch ohne den Galator an meiner Brust war mir etwas
wärmer ums Herz geworden.
Aber nur ein bisschen. Als wir an der Zelle mit dem zertrümmerten Schädel vorbeikamen, sagte ich zu Rhia: »Hereinzukommen
war schwierig, aber hinauszukommen wird noch schwerer sein. Zumindest . . . lebend.«
»Ich weiß.« Sie stand so aufrecht da wie eine junge Buche. »In diesem Fall können wir nur hoffen, dass Arbassa Recht hat.«
Verdruss hatte angefangen auf meiner Schulter hin und her zu gehen, jetzt blieb er stehen und hob den Kopf, als würde er zuhören.
»Mit dem Wiedersehen in der Anderswelt?«
Rhia nickte unsicher. »Nach der langen Reise.«
Ich konnte nur die Stirn runzeln. Ich war überzeugt, dass es keine Reisen mehr für uns geben würde, wenn wir heute sterben
sollten – weder lange noch kurze.
Shim zupfte an meiner Tunika. »Lassen uns gehen! Bevor diese Schnarchwache aufwachen . . .«
Plötzlich trat der Soldat aus dem Dunkel. Sein totenblasses Gesicht unter dem Helm war völlig ausdruckslos. Langsam zog er
sein Schwert aus der Scheide. Dann sprang er auf mich zu.
XXXVI
DER LETZTE SCHATZ
V orsicht!« rief Rhia.
Ich warf meinen Stock hoch und der krumme Griff lenkte den Schlag ab. Während Holzsplitter durch die Luft flogen, zückte ich
meinen Dolch. Zugleich zog der Soldat sein Schwert zurück und machte sich bereit zum nächsten Schlag.
Kreischend und mit vorgestreckten Krallen flog Verdruss ihm direkt ins Gesicht. Eine Kralle riss dem Mann die Wange auf. Ohne
den
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