Merlin - Wie alles begann
Raum.
Der Falke schien sofort zu verstehen. Geräuschlos glitt er zu Boden. Im Schutz der Schatten an der Wand schlüpfte er in den
Raum. Direkt vor dem Türbogen wechselten Shim und ich nervöse Blicke.
Nach ein paar Sekunden stieß ein Goblin einen Schmerzensschrei aus. »Du hast mich gestochen, du Idiot!«
»Hab ich nicht«, antwortete ein anderer zum Scheppern von Metall.
»Lügner!«
Etwas Schweres krachte auf den Steinboden. Ein Schwert zischte durch die Luft.
»Dir werd ich zeigen, wer ein Lügner ist!«
Eine Schlägerei begann. Schwerter klirrten, Fäuste schlugen, Flüche flogen hin und her. In dem Tumult stahlen Shim und ich
uns an der Türöffnung vorbei. Wir warteten nur, bis Verdruss an seinen Platz auf meiner Schulter zurückgeflogen war, und eilten
den Flur entlang. Als wir um eine Ecke bogen, standen wir vor einer Treppe.
Die Steinstufen, von einer flackernden Fackel auf dem Absatz schwach erhellt, führten ins Bodenlose. Mit Verdruss an meiner
Wange ging ich voran, wir versuchten beide zu erkennen, was im Schatten lauern mochte. Shim hielt sich dicht hinter uns und
murmelte unruhig vor sich hin.
Die Wendeltreppe brachte uns zu einem weiteren Absatz, der im Fackellicht bedrohlich aussah. SchwankendeSchatten krochen über die Wände. Während wir hinuntergingen, nahm das Rumpeln und Stöhnen der rotierenden Grundmauern ebenso
zu wie der stickige Geruch. Wir folgten den Stufen ins nächste Stockwerk, das noch dunkler war. Und weiter zum nächsten. Hier
an einem hohen steinernen Bogengang endete die Treppe. Dahinter lag ein düsterer Keller, der nach Verwesung stank.
»Das Verlies«, flüsterte ich über dem ständigen Grollen.
Shim antwortete nicht, er riss nur die Augen auf, so weit es ging.
Aus dem schwarzen Eingang zum Verlies drang ein langes, gequältes Stöhnen, ein reiner Schmerzenslaut. Die Stimme klang fast
menschlich, aber nicht ganz. Als das Stöhnen erneut und lauter als zuvor zu hören war, erstarrte Shim und stand reglos da,
als wäre er aus Stein. Vorsichtig schlich ich ohne ihn weiter und stieß dabei mit meinem Stock in die schwärzesten Schatten.
Unter dem Bogengang spähte ich ins Verlies. Links, hinter einer der wenigen Fackeln in dem höhlenartigen Raum, sah ich einen
Mann. Er lag auf einer Steinbank. Nach den langsamen, gleichmäßigen Atemzügen zu schließen schien er zu schlafen. Ein Schwert
und ein Dolch hingen von seinem Gürtel, doch er trug keine Rüstung bis auf ein schmales rotes Brustschild über seinem Lederhemd
und einen Spitzhelm auf dem Kopf.
Das Merkwürdigste an diesem Mann aber war sein Gesicht. Man hätte denken können, es wäre aus Papier, so blass war es. Oder
eine Maske ohne jeden Ausdruck. Was auch der Grund sein mochte, das Gesicht wirkte lebendig – und doch nicht lebendig.
Plötzlich fing der Mann an zu stöhnen und zu jammern.Die Kerkermauern warfen das Echo zurück und mir wurde klar, dass er träumte und im Schlaf schmerzhafte Momente erneut durchlebte.
Ich hätte ihn gern geweckt, um ihm diese Marter zu ersparen, aber das Risiko schien mir zu groß. Ich drehte mich nach Shim
um und wollte es ihm sagen, da verschlug es mir den Atem. Der kleine Riese war verschwunden.
Schnell lief ich zurück zur Treppe. Ich rief seinen Namen laut genug, um das Poltern des Schlosses zu übertönen, aber nicht
so laut, dass es den schlafenden Soldaten geweckt hätte. Aufgeregt schaute ich mich um, entdeckte aber keine Spur von ihm.
Ich rief wieder. Keine Antwort.
Wie konnte Shim verschwinden? Wohin konnte er gegangen sein? Vielleicht hatte er die Nerven verloren und verbarg sich zitternd
irgendwo. Jedenfalls hatte ich jetzt keine Zeit, ihn zu suchen.
Mit dem nervösen Verdruss auf der Schulter kehrte ich um und kroch unter der zischenden Fackel an dem schlafenden Soldaten
vorbei. Ich drang tiefer in den Kerker vor. Wo Ketten von den Wänden hingen, waren die Steine darunter schwarz von getrocknetem
Blut. An einer Zelle nach der anderen ging ich vorbei, manche waren geschlossen, bei anderen stand die schwere Tür weit offen.
Der Blick durch den Schlitz in den geschlossenen Türen zeigte Knochen und faulendes Fleisch auf dem Boden. Ich konnte mir
nicht vorstellen, dass Rhia mit all ihrer Lebensfreude an einem so grausigen Ort gefangen gehalten wurde. Doch wenn ich an
die Alternative dachte, hoffte ich verzweifelt, dass sie hier war.
Seit dem Tag, an dem ich vom Meer nach Fincayrazurückgetragen worden war,
Weitere Kostenlose Bücher