Merlin - Wie alles begann
etwas auf mein Gesicht, das so frisch roch wie der Wald nach dem Regen und den Schmerz
etwas zu betäuben schien. Weil ich mich etwas besser fühlte, sprudelte ich meine Fragen heraus wie ein Springbrunnen. »Wie
lange habe ich geschlafen? Wo sind wir? Wem gehören diese Stimmen?«
»Du und ich – verzeih mir, wenn das brennt – sind im Kloster Sankt Peter. Wir sind Gäste der Nonnen, die hier leben. Sie sind
es, die du singen hörst.«
»Sankt Peter! Das ist in Caer Myrddin.«
»Genau.«
Ich spürte einen kalten Luftzug von einem Fenster oder einer Tür irgendwo und zog die raue Wolldecke über die Schultern. »Aber
das ist mehrere Tagesritte entfernt.«
»Richtig.«
»Aber. . .«
»Sei still, Emrys, während ich das losbinde.«
»Aber. . .«
»Still jetzt . . . so ist es gut. Nur einen Augenblick. Ah, geschafft.«
Als der Verband fiel, waren meine Fragen über unsere Reise hierher vergessen. Eine neue Frage hatte alle anderen verdrängt.
Denn obwohl meine Augen nicht mehr verbunden waren, konnte ich immer noch nicht sehen.
»Warum ist es so dunkel?«
Branwen antwortete nicht.
»Hast du keine Kerze mitgebracht?«
Sie schwieg.
»Ist es Nacht?«
Sie gab immer noch keine Antwort. Doch es war auch nicht nötig, die Antwort kam von einem Kuckuck, der irgendwo in der Nähe
aus voller Kraft sang.
Die Finger meiner unverbundenen Hand zitterten, als ich die empfindlichen Stellen rund um meine Augen berührte. Ich fühlte
die schorfigen Stellen, die noch brennende Haut darunter und zuckte zusammen. Keine Härchen an meinen Brauen. Keine Wimpern.
Ich versuchte den Schmerz wegzublinzeln und berührte die verkrusteten, narbigen Ränder meiner Lider.
Ich wusste, dass meine Augen weit offen waren. Ich wusste, dass ich nichts sehen konnte. Und schaudernd wusste ich noch etwas.
Ich war blind.
Vor Qual brüllte ich. Plötzlich hörte ich wieder das Lied des Kuckucks und schleuderte meine Decke weg. Trotz meiner Schwäche
in den Beinen zwang ich mich vom Lager aufzustehen und stieß Branwens Hand weg, als sie versuchte mich zurückzuhalten. Ich
taumelte über den Steinboden, immer dem Vogelruf nach.
Ich stolperte über etwas, stürzte zu Boden und fiel auf die Schulter. Ich streckte die Arme aus und spürte nichtsals die Oberfläche der Steine unter mir. Sie fühlten sich hart und kalt an wie ein Grab.
Mir schwindelte. Branwen half mir auf die Füße, ich hörte ihr unterdrücktes Schluchzen. Wieder stieß ich sie weg. Ich taumelte
weiter, bis meine Hände eine Steinwand berührten. Der Ruf des Kuckucks zog mich nach links. Die tastenden Finger der unverbundenen
Hand fassten den Rand eines Fensters.
Ich packte das Sims und zog mich näher heran. Kühle Luft schlug mir ins Gesicht. Der Kuckuck sang so nah, dass ich mit der
ausgestreckten Hand seinen Flügel hätte berühren können. Zum ersten Mal seit Wochen, so kam es mir vor, spürte ich den Sonnenschein
auf meinem Gesicht. Doch sosehr ich die Sonne suchte, ich konnte sie nicht sehen.
Verborgen. Die ganze Welt ist verborgen.
Die Beine gaben unter mir nach. Ich fiel zu Boden, mit dem Kopf auf die Steine. Und ich weinte.
VIII
DAS GESCHENK
I n den folgenden Wochen, die sich zu Monaten dehnten, füllte meine Qual die Hallen von Sankt Peter. Von Branwens starker Frömmigkeit
und meinen schweren
Verbrennungen gerührt hatten die Nonnen die Tore ihres Heiligtums geöffnet. Es musste schwierig für sie gewesen sein, etwas
anderes als Mitgefühl mit der Frau zu empfinden, die den ganzen Tag nur betete und ihren verletzten Jungen pflegte. Dem Jungen
selbst gingen sie meist aus dem Weg, und das war mir gerade recht.
Für mich war jeder Tag finster – was meine Stimmung betraf und meine Sehkraft. Ich kam mir vor wie ein Kleinkind, ich konnte
kaum in der kalten Steinzelle umherkriechen, die ich mit Branwen teilte. Meine Finger lernten die vier starren Ecken kennen,
die rauen Mörtellinien zwischen den Steinen, das einzige Fenster, an dem ich manchmal stundenlang stand und mich anstrengte
etwas zu sehen. Statt mir Helligkeit zu schenken quälte mich das Fenster jedoch nur mit dem fröhlichen Ruf des Kuckucks und
dem fernen Lärm von Caer Myrddins Marktplatz. Gelegentlich wehte Essensgeruch oder der Duft eines blühenden Baums zu mir und
vermischte sich mit den Düften von Thymian und Buchenholz, die von Branwens niedrigem Tisch bei ihrem Lager aufstiegen. Aber
ich konnte nicht hinausgehen und diese Dinge suchen. Ich war
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