Merlin - Wie alles begann
den Hals trug. Gwynedd war wirklich gewesen. So wirklich wie der fremdartige, kräftige Geruch,
der die Luft an diesem Ort würzte, wo immer dieser Ort auch sein mochte.
Ich rollte mich auf die Seite und zerdrückte dabei eine Muschel unter meiner Hüfte. Ich setzte mich auf und atmete tief die
Luft ein. Sie roch so angenehm wie eine Sommerwiese, aber sie hatte eine gewisse Schärfe. Herber. Ehrlicher.
Ich hörte, wie nicht weit von hier die Wellen schwappten und klatschten, aber ich konnte sie mit meinem zweiten Gesicht nicht
wahrnehmen. Das hatte jedoch nichts mit meiner mangelnden Sehkraft zu tun. Die Wellen lagenhinter einer dicken, wabernden Nebelwand verborgen, die mit Blicken nicht zu durchdringen war.
Innerhalb der Nebelwand schienen seltsame Gestalten zu verschmelzen, ein paar Sekunden beieinander zu bleiben, dann zu verschwinden.
Ich sah etwas wie einen großen Bogengang mit einem Tor, das zuschlug. Er verschwand und an seiner Stelle erschien ein stachliger
Schwanz, groß genug für einen Drachen. Und während ich ihn betrachtete, verwandelte sich der Schwanz in einen riesigen Kopf
mit einer Knollennase. Wie ein Riese aus Nebel wandte er sich mir langsam zu, bewegte den Mund, als wollte er sprechen, und
löste sich in den ziehenden Wolken auf.
Ich drehte meinen steifen Rücken und schaute mich um. Dieser Strand zeigte im Gegensatz zur Nordküste von Gwynedd eine freundliche
Begegnung von Land und Meer. Keine Haufen zerklüfteter Felsen lagen herum, nur rosa, weiße und purpurrote Muscheln waren über
den feinkörnigen Sand gestreut. Neben meinem Fuß kroch eine blättrige Ranke über den Strand wie eine leuchtend grüne Schlange.
Rosa. Purpur. Grün. Mein Herz hüpfte. Ich konnte Farben wahrnehmen! Nicht so deutlich vielleicht, wie sie in meinen Erinnerungen
an die Zeit vor dem Brand waren, aber viel besser als vor kurzem, bevor das Meer mein Floß in Fetzen gerissen hatte.
Doch halt. Das konnte nicht stimmen. Als ich meine Haut betrachtete und dann die Falten meiner Tunika, wusste ich, dass diese
Farben nicht stärker waren als bisher.
Nach einem Blick zurück auf den Strand hatte ich verstanden.Ich konnte nicht besser sehen. Diese Landschaft strahlte einfach Farbe aus. Die Muscheln, die glänzenden Blätter, sogar der
Sand hier waren stärker, satter gefärbt. Wenn sie schon meinem zweiten Gesicht so lebhaft erschienen, wie strahlend würden
sie dann sein, wenn ich Augen hätte, die wirklich sehen konnten!
Ich hob eine der spiraligen Muscheln auf. Purpurlinien zogen sich um das leuchtende Weiß. Sie lag so angenehm in meiner Hand
wie die Berührung eines Freundes.
Ich legte die Muschel ans Ohr und erwartete das wässrige Rauschen in ihren Kammern. Stattdessen hörte ich einen seltsamen,
hauchigen Ton wie eine weit entfernte Stimme, die mir etwas zuflüsterte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Die versuchte
mir etwas zu sagen.
Ich hielt die Luft an und schaute in die Muschel. Nichts Ungewöhnliches fiel mir auf. Ich musste es mir eingebildet haben.
Wieder legte ich sie ans Ohr. Wieder die Stimme! Diesmal deutlicher als zuvor. Trotz meiner Abwehr glaubte ich zu hören:
Gib Aaacht . . . gib Aaacht.
Rasch legte ich die Muschel weg. Meine Hände waren verschwitzt, mein Magen hatte sich verkrampft. Ich stand auf. Beine, Arme
und Rücken waren so steif, dass sie schmerzten. Ich schaute auf die Muschel hinunter und schüttelte den Kopf. Seewasser in
den Ohren. Vielleicht war das der Grund.
Wasser.
Ich muss frisches Wasser suchen.
Wenn ich nur etwas zu trinken finden könnte, würde ich mich lebendiger fühlen.
Ich stieg auf den Kamm einer Düne, die sich über den Strand zog. Was ich sah, nahm mir den Atem.
Ein dichter Wald, in dem farbenfrohe Vögel zwischenden Wipfeln hoher Bäume flatterten, dehnte sich weit in den Westen. Zum Horizont hin erhoben sich neblige Hügelketten, auf
denen sich das Grün des Waldes zu Blau vertiefte. Zwischen hier und dort lag ein üppiges Tal wie ein weicher Teppich. Sonnenbeschienene
Bäche sprudelten aus den Wäldern über die Wiesen und verschmolzen mit einem breiten Fluss, der zum Meer strömte. In der Ferne
wuchsen noch mehr Bäume. Sie standen in ordentlichen Reihen, nicht wie in einem Wald, sondern wie in einem Obstgarten, den
jemand vor langer Zeit angelegt hatte.
Ich wollte gerade in das Tal hinuntersteigen und meinen Durst löschen, da fiel mir etwas anderes auf. Obwohl ich nur wenig
vom Ostufer des
Weitere Kostenlose Bücher