Merlin - Wie alles begann
Zweige hervorstanden, stockte mir der Atem und ich zog die Hand rasch zurück.
Der Stock bewegte sich! Die Zweige, zu denen noch andere darüber und darunter kamen, fingen an zu zappeln wie kleine Beine.
Der knotige Schaft bog sich, als er über die schuppige Rinde der Zeder, über die Wurzeln und in ein Farngebüsch stieg. In
wenigen Sekunden war das Stockgeschöpf verschwunden und mit ihm mein Wunsch, einen Stab zu finden.
Da überkam mich ein vertrauter Impuls: Nichts wie hoch auf einen dieser Bäume! Nicht bis ganz hinauf vielleicht, aber hoch
genug, um einen Überblick über das Dach der Äste zu bekommen. Ich entschied mich für eine hoch aufgeschossene Linde, deren
herzförmige Blätter zitterten wie die Oberfläche eines Flusses. Meine Füße und Hände fanden viele Haltepunkte und ich kam
schnell hinauf.
Aus der Höhe meiner fünffachen Größe veränderte sich die Aussicht dramatisch. Viel mehr Licht drang durch das Zweignetz und
stärkte meine Sicht. Durch die zitternden Lindenblätter bemerkte ich einen runden, grünen Moosklumpen dicht an meinem Kopf,
den ich nach meiner Erfahrung mit dem Stock nicht berühren wollte. Dann sah ich ein Paar Schmetterlinge, orange und blau gefärbt,
die zwischen den Ästen schwebten. Eine Spinne schaukelte von einem nahen Ast, ihr Netz war von Tau beperlt. Großäugige Eichhörnchen
unterhielten sich geräuschvoll. Ein Vogel mit goldenem Gefieder hüpfte von Ast zu Ast. Doch wie unten am Waldboden war auch
hier oben das sonderbare Flüstern zu vernehmen.
Ich schaute zum Waldrand und konnte die Wieseerkennen, auf der ich dem Merlin begegnet war. Direkt dahinter erspähte ich das glitzernde Wasser des großen Flusses, der
zur Nebelwand vor dem Meer strömte. Zu meiner Überraschung hob sich eine merkwürdige Welle aus den Stromschnellen, eine Woge,
die wie eine riesige Hand wirkte. Ich wusste, dass das nicht sein konnte, doch als die Wasserhand sich aus dem Fluss streckte
und Wasser durch die breiten Finger spitzte, bevor sie zurückklatschte, überkamen mich Verwunderung und Angst.
Dann löste sich hoch über mir ein großes Blätterbündel. Doch statt direkt zu Boden zu fallen, flog es horizontal zu einem
anderen Baum. Wunderbarerweise fingen die Äste dieses Baums das Bündel auf und wiegten es in ihren starken Zweigen, bevor
es weiterflog. Wieder fing ein Ast es auf, bog sich unter dem Gewicht und warf es zurück. Das Bündel wirbelte durch die Luft,
segelte zwischen den Stämmen über die Äste und drehte sich dabei wie ein Tänzer. Es sah beinah aus, als würden die Bäume in
diesem Gehölz miteinander Fangen spielen und sich das Bündel zuwerfen wie Kinder einen Ball.
Allmählich sank das Blätterbündel immer tiefer zwischen die Äste. Schließlich rollte es auf den Waldboden und kam in einem
Bett aus braunen Nadeln zum Stillstand.
Ich hielt den Atem an. Aus dem Bündel streckte sich plötzlich ein langer, blättriger Ast. Nein, kein Ast. Ein Arm in einem
Ärmel aus Rankengeflecht. Dann ein zweiter Arm. Ein Bein, dann das zweite. Ein Kopf, das Haar mit glänzenden Blättern bedeckt.
Zwei Augen, grau wie Buchenrinde mit einer Spur Blau darin.
Die blätterumhüllte Gestalt stand auf und brach in lautes Gelächter aus. Dieses klare, voll tönende Lachen hallte wie ein
Glockenton durch die Bäume.
Ich beugte mich auf meinem Ast vor, damit ich weitere Einzelheiten erkennen konnte. Denn ich sah bereits, dass dieses Blätterbündel
in Wahrheit ein Mädchen war.
XIV
RHIA
O hne Warnung brach der Ast. Ich fiel zu Boden, mehrere Zweige bremsten unterwegs meinen Sturz. Meine Brust knallte heftig gegen
Holz, ebenso mein unterer Rücken, meine Schulter und beide Schenkel. Mit einem dumpfen Schlag landete ich auf einem Kissen
aus Tannennadeln.
Stöhnend rollte ich auf die Seite. Zu den steifen Gliedern von der Reise und dem üblichen Schmerz zwischen den Schulterblättern
tat mir jetzt der ganze Körper weh. Langsam setzte ich mich auf – und saß dem Mädchen direkt gegenüber.
Sie hörte auf zu lachen.
Ein paar Sekunden lang rührten wir uns beide nicht. Selbst in dem schwachen Licht erkannte ich, dass sie etwa in meinem Alter
war. Sie beobachtete mich und blieb dabei so ruhig wie einer der Bäume. Bis auf die Spur von Blau in ihren Augen hätte man
sie fast für einen Baum halten können, so viel Grün und Braun war in ihrem Rankengewand. Doch die Augen konnten einem nicht
entgehen. Sie blitzten
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