Merlin - Wie alles begann
paar Federn aus den Zähnen. Ihre
Beine spannten sich, gleich würde sie sich auf den geschwächten Vogel stürzen.
In diesem Augenblick lief ich herbei und trat die zweite Ratte so fest in die Brust, dass sie ins Dickicht rollte. Aufgeschreckt
hielt die erste Ratte inne und starrte mich aus blutroten Augen an. Mit aller Kraft warf sie den Merlin ins Gras. Der Vogel
lag auf dem Rücken, zu schwach, um sich zu bewegen.
Die Ratte zischte schrill. Ich machte einen Schritt auf sie zu. Dann hob ich die Hand, als wollte ich zuschlagen. Die Ratte,
offenbar kampfesmüde, drehte sich um und huschte durchs Gras davon.
Ich beugte mich zu dem Merlin und untersuchte ihn. Obwohl seine Augen, zwei schwarze, gelb umrandete Punkte, halb geschlossen
blieben, beobachteten sie mich aufmerksam. Als ich nach ihm griff, pfiff er, schlug mit einer seiner Krallen nach meinem Handgelenk
und riss einen Fetzen Haut ab.
»Was machst du denn, du dummer Vogel?«, rief ich und saugte das Blut aus der Wunde. »Ich will dir helfen, nicht wehtun.«
Aufs Neue griff ich nach dem gefallenen Krieger. Wieder pfiff der Vogel und schlug zu.
»Das reicht!« Ich schüttelte erschreckt den Kopf und stand auf, um zu gehen.
Noch einmal sah ich zu dem Merlin zurück. Er hatte die Augen endlich geschlossen und lag zitternd im Gras.
Ich holte tief Luft und kam zurück. Vorsichtig hob ich ihn auf und hütete mich dabei, in die Nähe der Krallen zu kommen. Ich
hielt den warmen, gefiederten Körper in der Hand und staunte, dass ein so wildes Geschöpf sich so weich anfühlen konnte. Ich
streichelte den verletzten Flügel und merkte, dass zwar Haut und Muskeln zerfetzt, aber keine Knochen gebrochen waren. Ich
griff in den Beutel, den Branwen mir mitgegeben hatte, holte eine Prise getrockneter Kräuter heraus und vermischte sie mit
ein paar Wassertropfen aus dem Bach. Mit dem Saum meiner Tunika reinigte ich die Wunden, die ihm die Ratte geschlagen hatte,
mehrere tiefe waren am oberen Rand des Flügels. Vorsichtig trug ich die Kräuter auf.
Der Merlin versteifte sich und öffnete ein Auge. Diesmal schlug er jedoch nicht nach mir. Selbst zum Pfeifen zu schwach, konnte
er mich nur misstrauisch beobachten.
Als ich fertig war, überlegte ich mit dem kleinen Vogel in der Hand, was ich als Nächstes tun sollte. Ihn hier beim Bach lassen?
Nein, die Ratten würden bestimmt zurückkommen und ihre Arbeit beenden. Ihn mitnehmen? Nein, ich brauchte keinen Mitreisenden,
schon gar nicht einen so gefährlichen.
Als ich eine Eiche mit ausladenden Ästen am Waldrand sah, kam mir eine Idee. Ich legte den Vogel auf den Boden, bis ich ein
paar Grasbüschel ausgerissen und sie zu einem notdürftigen Nest zusammengebunden hatte. Mit dem Nest und dem Vogel unterm
Arm kletterte ichauf einen niedrigen Ast, der dick bemoost war. Ich klemmte das Nest an die Stelle, wo der Ast aus dem Stamm kam, und legte
den hilflosen Vogel hinein.
Einen Augenblick schaute ich in die trotzigen, gelb geränderten Augen. Dann kletterte ich hinunter und ging in den Wald hinein.
XIII
EIN BLÄTTERBÜNDEL
W ährend ich unter den Wipfeln und verschlungenen Ästen dieses alten Waldes dahinschritt, überkam mich eine merkwürdige Empfindung.
Sie hatte nichts mit dem zweiten Gesicht zu tun, obwohl das Licht in diesem dunklen Gehölz, wo nur gelegentlich Sonnenstrahlen
bis auf den Boden drangen, wirklich spärlich war. Sie hatte nichts mit den Düften in der Luft zu tun, die ich in dieser Stärke
noch nie gerochen hatte, obwohl sie die Erinnerung an den Tag weckten, an dem ich den Sturm in der großen Tanne unterhalb
des Y Wyddfa erlebt hatte. Sie hatte nichts mit all den Geräuschen um mich herum zu tun – dem Rauschen des Winds in den Blättern,
dem Knacken und Knarren der Äste, dem Knirschen der Nadeln unter meinen Schritten.
Was ich so eindringlich spürte, kam nicht von alledem. Vielleicht entstand es durch die Kombination dieser Umstände. Ein Geräusch.
Ein Geruch. Ein dämmriger Wald. Vor allem ein Gefühl. Dass etwas in diesem Wald wusste, dass ich da war. Dass etwas mich beobachtete.
Dass ein seltsames Flüstern, dem in der Muschel ähnlich, jetzt überall um mich herum war. Ich bemerkte einen knotigen Stock,
fast so groß wie ich, der am Stamm einer alten Zeder lehnte. Ein guter Stab könnte mir auf meinem Weg durch dieses halbdunkle
Gehölz helfen. Ich streckte die Hand danach aus, und gerade als ich ihn in der Mittepacken wollte, wo ein paar
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