Merlin - Wie alles begann
Ghulen und Stangmar selbst ausgeliefert. Was würde aus ihr werden, wenn er feststellte, dass sie ihm
den Galator, den letzten Schatz, weder verschaffen konnte noch wollte? Ich schauderte bei dem Gedanken. Und ich verzweifelte,
wenn ich an die Meinung der großen Elusa dachte, die einzige Möglichkeit, Stangmar zu stürzen, läge in der Zerstörung des
verhüllten Schlosses. Genauso gut könnte ich mir wünschen Flügel zu bekommen!
»Jetzt kannst du sehen«, sagte Cairpré, »dass Stangmar in Wahrheit Rhita Gawrs Gefangener ist. Und so wie Stangmar sind wir
alle gefangen.«
»Warum hat Dagda nicht eingegriffen und das alles verhindert? Er kämpft doch an anderen Fronten gegen Rhita Gawr, oder nicht?«
»Das stimmt. Sowohl in der Anderswelt wie in dieser Welt. Aber Dagda glaubt im Gegensatz zu Rhita Gawr, dass er den freien
Willen der Menschen respektieren muss, wenn er den Kampf endgültig gewinnen will. Dagda lässt es zu, dass wir unsere eigene
Wahl treffen, zum Guten oder zum Schlechten. Wenn Fincayra gerettet werden soll, dann muss es von den Fincayranern gerettet
werden.«
XXIX
VERLORENE FLÜGEL
C airpré griff um Shim herum, der es geschafft hatte, sich (und Kleehonig) über das Speisekammerbord auszubreiten. Der langhaarige
Poet brach einen Brocken des dunklen Kornbrots ab und riss es entzwei. Er reichte mir die eine Hälfte und behielt die andere.
»Hier. Bevor dein kleiner Freund alles aufisst.«
Shim schien es nicht zu bemerken und stopfte sich weiter voll.
Ich musste lachen und biss in das knusprige Brot.
Zuerst war es fast so hart wie Holz, bis es durch angestrengtes Kauen etwas weicher wurde. Dann löste es sich zu meiner Überraschung
schnell auf und füllte meinen Mund mit einem scharfen Minzgeschmack. Kaum hatte ich es hinuntergeschluckt, durchströmte mich
ein Gefühl der Stärkung. Ich richtete mich auf. Selbst der gewohnte Schmerz zwischen den Schulterblättern ließ etwas nach.
Ich nahm noch einen Bissen.
»Wie ich sehe, schmeckt dir Ambrosiabrot«, sagte Cairpré mit vollem Mund. »Zweifellos eine der besten Errungenschaften der
Slantos. Aber man sagt, dass niemand aus anderen Teilen Fincayras je die ganz besonderen Brote der Slantos gekostet hat. Angeblich
schützen sie diese wertvollen Rezepte mit ihrem Leben.«
Ich betrachtete die Wände und den Boden des Raums, der so dicht mit Büchern voll gepackt war. Hier fühlte ichmich wie in einem Schiff, dessen Ladung nur aus Büchern bestand. Ich dachte an Branwens sehnsüchtigen Blick, als sie von einem
Zimmer voller Bücher geredet hatte – das hier war es zweifellos. Obwohl sich das Verderben damals ausbreitete, musste es schwer
für sie gewesen sein, diesen Raum, dieses Land für immer zu verlassen.
Ich wandte mich wieder an Cairpré. »Bran – ich meine, meine Mutter – muss sehr gern hier bei all deinen Büchern gewesen sein.«
»Das stimmt. Sie wollte die Lehren der Fincayraner, der Druiden, der Kelten, der Christen und der Griechen lesen. Sie nannte
sich meine Schülerin, aber es war eigentlich eher umgekehrt. Ich habe viel von ihr gelernt.«
Er schaute zu dem Bücherberg am Fuß der Leiter. Auf dem Ledereinband des obersten Buches war ein Porträt aus Blattgold, es
zeigte den Lenker eines flammenden Triumphwagens und leuchtete jetzt im Licht der Feuerstelle.
»Ich erinnere mich«, sagte Cairpré wie von weit her, »dass wir einmal die ganze Nacht über diese erstaunlichen Orte redeten,
wo Wesen aus sterblichem Fleisch und Geschöpfe eines unsterblichen Geistes Seite an Seite leben. Wo die Zeit sowohl in einer
Geraden wie einem Kreis verläuft. Wo die heilige Zeit und die historische Zeit zusammen existieren. Branwen nannte sie
Zwischenorte
.«
»Wie der Olymp.«
Der Dichter nickte. »Oder wie Fincayra.«
»Wollte sie Fincayra verlassen, weil all das Böse stärker wurde? Oder war da mehr?«
Er sah mich seltsam an. »Dein Verdacht ist richtig. Da war mehr.«
»Was?«
»Du, mein Junge.«
Ich runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«
»Lass mich erklären. Hast du schon von der griechischen Insel Delos gehört?«
»Apollo wurde dort geboren. Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Auch das war ein
Zwischenort,
zugleich geheiligt und historisch. Deshalb gestatteten die Griechen nie, dass jemand auf Delos ein Kind gebar. Sie wollten
verhindern, dass Sterbliche ein Geburtsrecht auf den Boden hatten, der in erster Linie den Göttern gehörte. Und sie töteten
oder verbannten
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