Merlin - Wie alles begann
dunklen Erdspalten gekrochen! Dann entstanden Gerüchte – dass die
Riesen, Fincayras älteste Einwohner, plötzlich gefährlich geworden seien. Nicht nur für den König, auch für uns andere. Deshalb
gab es nicht viele, die protestierten, als Stangmar befahl die Riesen zu verfolgen. Riesen erschienen den meisten Leuten immer
so . . .
anders.
Wer gegen die Hetze war, wurde entweder lächerlich gemacht oder zum Schweigen gebracht. Als Nächstes befolgte Stangmar Rhita
Gawrs Warnungen und begann einen Feldzug, um das Land von allen Feinden des Königs zu reinigen – und die Schätze von Fincayra
zu beschlagnahmen, weil sie in die Hände des Feindes fallen könnten.«
»Hat niemand versucht das zu verhindern?«
»Ein paar Mutige probierten es, aber sie waren zu wenigeund sie kamen zu spät. Stangmar zerschlug jede Opposition, beim geringsten Verdacht auf Verrat ließ er ganze Dörfer niederbrennen.
Doch selbst das war noch dem vorzuziehen, was er Caer Neithan antat.«
Ich sprang auf. »Du meinst . . . die Stadt der Barden?«
»Du kennst sie? Oh, das war ein Verlust für unsere Welt und alle anderen! Länger, als man zurückdenken kann, war diese Stadt
eine Quelle von Musik und Gesang, die Heimat unserer einfallsreichsten Geschichtenerzähler, eine Schule für Generationen von
Barden. Laon der Lahme wurde dort geboren! Pwyll schrieb dort ihre ersten Gedichte.
Das Gefäß der Illusion
wurde dort komponiert! Diese Aufzählung könnte ich endlos fortsetzen.
Hier ist das Lied stets überall, Geschichte stützt den Sonnenball.«
Ich nickte. »Die Worte auf dem Schild.«
»Ja. Sie galten in Wahrheit, als sie geschrieben wurden, auch wenn sie jetzt nur noch Spott und Hohn sind. Ich muss es wissen,
ich schrieb sie selbst.« Er seufzte. »Auch ich bin in Caer Neithan geboren.«
»Was ist dort geschehen?«
Cairpré schaute mich eine Zeit lang traurig an. »Von all den legendären Schätzen, die Stangmar gestohlen hatte – das Schwert
Tieferschneid, das bis zur Seele dringt, die blühende Harfe, die den Frühling herbeirufen kann, der Todeskessel, der jedes
Leben beendet –, rühmten die Barden aller Zeiten vor allem den Traumrufer. Das war ein Horn mit der Kraft, wundervolle Träume zum Leben
zu erwecken, und jahrhundertelang wurde es nur selten und weise genutzt. Doch mit Rhita Gawrs Hilfe gebrauchte Stangmar es
dazu, Caer Neithan dafür zu bestrafen, dass es einige Gegner seiner Politik beherbergte. Er weckte denschrecklichsten Traum, den je ein Barde träumte – und verhängte ihn über die ganze Stadt.«
Ich dachte an die halb wahnsinnigen Augen des Mannes mit dem Speer und fürchtete mich fast zu fragen: »Was war das für ein
Traum?«
Die Augen des Poeten wurden dunkel vor Trauer. »Dass jeder Mann, jede Frau, jedes Kind in der Stadt nie mehr reden, singen
oder schreiben konnte. Dass die Instrumente ihrer Seelen – ihre Stimmen – für immer schwiegen.«
Sein Flüstern war kaum noch zu hören. »Inzwischen gab es niemanden mehr, der protestierte, als Rhita Gawr Stangmar drängte
sein eigenes Schloss zu zerstören, das großartigste und dabei gastfreundlichste Heim, das sich ein König oder eine Königin
nur wünschen konnte. Darin gab es eine Bibliothek, die tausendmal umfangreicher war als meine. Und warum musste es vernichtet
werden? Mit der Begründung, es sei bei einem Angriff nicht sicher genug! Und Rhita Gawr, der das zweifellos ein Zeichen seiner
Freundschaft nannte, baute ein neues Schloss für Stangmar, ein Schloss, das er mit seiner eigenen bösen Kraft vergiftete.
So entstand das verhüllte Schloss, das sich unablässig auf seinen Grundmauern dreht. Von ihm geht die undurchdringliche Wolke
aus, die jetzt unseren Himmel verfinstert, und es breitet sich aus, das schreckliche Verderben, das unsere Erde erstickt.«
Er rieb sein Kinn. »Das Schloss wird von Rhita Gawrs eigenen unsterblichen Kriegern bewacht, den Ghulen. Ihr Leben, wenn man
das Leben nennen kann – denn sie sind eigentlich Männer, deren Körper Rhita Gawr von den Toten auferstehen ließ –, endet nie, jedenfalls nicht durchtödliche Schläge. Es nährt sich nämlich vom Drehen des verhüllten Schlosses! Solange das Schloss sich dreht, werden sie dort
sein und Untaten begehen, die noch dunkler sind als die Nebel rund ums Schloss.«
Ich sehnte mich nach Rhia. Wenn sie noch lebte, war sie vielleicht in den Eingeweiden ebendieses Schlosses! Dann war sie auf
Gedeih und Verderb den
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