Merlin - Wie alles begann
du mir sagst, dass ich
hierher gehöre?«
»Eines Tages sage ich es dir vielleicht«, antwortete der Dichter ruhig. »Wenn du mir das Gleiche sagst.«
Mehr noch als seine Worte beruhigte mich sein Verhalten. Ich schob den Anhänger zurück unter die Tunika. Weil ich wieder den
Schmerz zwischen den Schulterblättern spürte, streckte ich die Arme aus.
Cairpré beobachtete mich verständnisvoll. »Du fühlst also auch den Schmerz. In dieser Hinsicht bist du jedenfalls ein Sohn
von Fincayra.«
»Dieser Schmerz in meinen Schultern? Wie kann das einen Unterschied bedeuten?«
»Es bedeutet allen Unterschied der Welt.« Er sah meine Verwirrung, lehnte sich wieder auf seinem Schemel zurück, umfasste
seine Knie und fing an eine Geschichte zu erzählen.
»In den fernen, fernen Weiten der Zeit gingen die Menschen von Fincayra auf dem Lande wie jetzt. Doch sie konnten noch etwas
anderes. Sie konnten auch fliegen.«
Ich machte große Augen.
»Sie hatten die Gabe zu fliegen. Sie hatten schöne weißeFlügel, erzählen die alten Legenden, die zwischen ihren Schulterblättern wuchsen. So konnten sie mit den Adlern aufsteigen
und mit den Wolken segeln.
Auf weißen Schwingen hoch über den Dingen.
Sie konnten sich hoch über Fincayra erheben und sogar über die Länder dahinter.«
Einen Moment lang spürte ich fast das Flattern des reizbaren Falken, wie er durch die Luft herabstieß, bevor er auf meiner
Schulter landete. Verdruss hatte die Gabe zu fliegen so genossen! Er fehlte mir fast so sehr wie Rhia.
Traurig lächelte ich Cairpré zu. »Die Fincayraner hatten also die Ohren von Dämonen und die Flügel von Engeln.«
Er sah belustigt aus. »Das ist poetisch ausgedrückt.«
»Was ist mit den Flügeln geschehen?«
»Sie haben sie verloren, obwohl nicht klar ist, wie. Das ist eine Geschichte, die nicht überliefert ist, obwohl ich gern die
Hälfte meiner Bücher dafür geben würde, sie zu hören. Was immer geschah, begab sich vor so langer Zeit, dass viele Fincayraner
noch nicht einmal davon gehört haben, dass ihre Vorfahren fliegen konnten. Oder wenn, dann tun sie es als unwahr ab.«
Ich schaute den Dichter scharf an. »Aber du glaubst, dass es wahr ist.«
»Sicher.«
»Ich kenne noch jemanden, der es glauben würde. Meine Freundin Rhia. Sie würde zu gern fliegen können.« Ich biss mir auf die
Lippe. »Aber zuerst muss ich sie retten! Wenn sie noch lebt.«
»Was ist ihr zugestoßen?«
»Goblins haben sie verschleppt! Rhia hat die Krieger überlistet sie mitzunehmen statt mich, obwohl sie eigentlichden Galator wollten. Wahrscheinlich ist sie jetzt im verhüllten Schloss.«
Cairpré neigte den Kopf und runzelte die Stirn. Aus diesem Winkel wirkte sein Gesicht wie das strenge Antlitz einer Statue
aus Stein. Als er schließlich redete, füllte seine voll tönende Stimme den Raum mit all den Büchern.
»Kennst du die Prophezeiung vom Tanz der Riesen?«
Ich versuchte mich zu erinnern.
»Erst wenn die Riesen im Tanze sich wiegen, werden
. . .
«
»Die Mauern.«
»Werden die Mauern in Trümmerschutt liegen.
Aber ich habe nicht die geringste Hoffnung, dass ich das Schloss zerstören könnte! Alles, worauf ich hoffen kann, ist die
Rettung meiner Freundin.«
»Und wenn es dazu nötig ist, das verhüllte Schloss zu zerstören?«
»Dann ist alles verloren.«
»Zweifellos hast du Recht. Die Zerstörung des Schlosses würde bedeuten, dass Rhita Gawr aus Fincayra verschwinden muss. Und
weder er noch Stangmar werden das zulassen! Selbst ein Held wie Herakles würde das nicht fertig bringen. Auch dann nicht,
wenn er eine Waffe von enormer Stärke trüge.«
Plötzlich kam mir eine Idee. »Vielleicht ist der Galator der Schlüssel! Er ist schließlich der letzte Schatz, der Schatz,
nach dem Stangmar sucht.«
Cairprés struppige Mähne schwang von einer Seite zur anderen. »Wir wissen sehr wenig über den Galator.«
»Kannst du mir wenigstens sagen, welche Kräfte er besitzt?«
»Nein. Nur dass er in den alten Texten als
gewaltig über alles Wissen hinaus
beschrieben wird.«
»Das hilft mir nicht weiter.«
»Das ist nur zu wahr.« Cairprés trauriges Gesicht hellte sich jedoch ein wenig auf. »Ich kann dir meine eigene Theorie über
den Galator darlegen.«
»Erzähl, bitte!«
»Ich glaube, dass seine Kräfte, was immer sie sind, auf Liebe reagieren.«
»Liebe?«
»Ja.« Der Blick des Poeten glitt über seine Bücher. »Du solltest nicht so überrascht sein! Es gibt unendlich viele
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