Merlin - Wie alles begann
seltsamsten Raum war, den ich je gesehen hatte. Polierte
Steinwände, Boden und Decke umschlossen uns, es gab noch nicht einmal einen Fensterschlitz. Ein flackerndes blaues Licht wie
von einer niedergebrannten Kerze erhellte den Raum. Aber eine Kerze war nicht zu sehen.
Ich schauderte, doch nicht vor Kälte. Ich wusste nicht genau, warum, aber eine böse Vorahnung schien in der Luft zu liegen.
Als ob Shim und ich gleich für jemandes Abendessen zerlegt würden.
Shim rutschte näher. »Hier sein es zum Fürchten. Wie in einem Verlies.«
»Das finde ich auch.«
Plötzlich deutete er auf etwas. »Knochen!«
Erschrocken betrachtete ich den Haufen neben uns. Er bestand tatsächlich aus lauter vollkommen sauberen Knochen.In dem flackernden Licht erkannte ich Rippen, Beinknochen und mehr als nur ein paar Schädel. Menschenschädel. Ich schluckte
und fragte mich, ob unsere Reste auch bald hier liegen würden.
Dann bemerkte ich, dass noch weitere Haufen, allerdings nicht aus Knochen, um uns herumlagen. Auf einem waren dünne Steinplatten,
die fast so hoch wie mein Stock gestapelt waren. Ein anderer bestand aus glänzenden Holzkugeln verschiedener Größe, in die
seltsame Zeichen eingeschnitzt waren. Manche dieser Kugeln waren kleiner als Fingernägel, andere größer als Köpfe und sie
schienen sorgfältig zu irgendeinem Zweck angeordnet zu sein. In einem anderen Haufen waren Stockbündel nach Größe und Anzahl
sortiert. In einer fernen Ecke bemerkte ich sonderbare weiße Würfel mit schwarzen Punkten an den Seiten. Da lagen schwarze
und weiße Garnrollen, dort bizarre Muscheln aus dem Meer. In Eisenschalen waren Kiesel und Samen in vielen Formen aufgehäuft.
Mitten auf dem Boden lag ein dicker, quadratischer Teppich, der in kleinere rote und schwarze Quadrate aufgeteilt war. Auf
vielen dieser Quadrate standen geschnitzte Holzfiguren, jede reichte mir etwa bis zur Taille. Angreifende Drachen, galoppierende
Pferde, heulende Wölfe, kämpfende Goblins, Könige und Königinnen, dazu andere, die ich nicht identifizieren konnte. In Caer
Vedwyd hatte ich von einem Spiel namens
Esches
gehört, manchmal als
Chess
abgekürzt und in einer anderen Sprache Schach genannt, aber das wurde auf einem Brett gespielt, nicht auf einem Teppich. Und
zu den Schachfiguren gehörten jedenfalls keine Drachen. Oder Goblins.
An der Steinwand uns gegenüber taumelte ein dichtesDurcheinander blauer Markierungen in dem unruhigen Licht. Reihen von Schrägstrichen, Punkten und Schnörkeln bedeckten in verschiedenen
Richtungen einen großen Teil der Oberfläche. Es gab Tausende von Quadraten, Dreiecken und Netzen aus gekreuzten Linien sowie
Kreise, die in Abschnitte geteilt waren, wie man einen Brotlaib aufschneidet. Zwischen, über und unter, innerhalb und außerhalb
der anderen Zeichen waren Runen, Buchstaben und Zahlen gezwängt.
»Zu schade«, knurrte eine tiefe Stimme hinter uns.
Wir fuhren herum und sahen einen bleichen, kahlen Kopf durch einen Türspalt spähen. Langsam schwang die Tür auf und gab den
Blick auf einen Körper frei, der so rund wie der Kopf war; er trug ein sackartiges Gewand mit mehreren Taschen und eine Kette
aus ungeschliffenen Steinen. Die Füße darunter waren nackt. Ich erstarrte vor Furcht, das könnte wieder ein Wechselgeist sein.
Oder vielleicht etwas Schlimmeres.
Der haarlose Kopf mit Falten, die an den dreieckigen Ohren zusammenliefen, beugte sich zu uns. Eine große, runzlige Warze
wuchs wie ein Horn mitten aus der Stirn. Augen, noch schwärzer als meine eigenen, beobachteten uns mehrere Sekunden lang ohne
zu blinzeln. Dann öffnete sich erneut der Mund voller krummer Zähne. »Eindeutig zu schade.«
Ich griff nach meinem Stock und kam mühsam auf die Füße, was noch dadurch erschwert wurde, dass Shim sich an mein Bein klammerte.
»Wer bist du?«
»Fast keine Chance, dass sie den Tag überleben«, murmelte die seltsame Gestalt und trat in den Raum. »Eindeutig zu schade.«
Obwohl meine Stimme zitterte, wiederholte ich meine Frage. »Wer bist du?«
Die schwarzen Augen, die schrecklich alt wirkten, musterten mich einen Moment. »Das ist eine schwierige Frage, mein Schatz.«
Ich krümmte mich, als ich dieses
mein Schatz
hörte.
»Wer ich bin?« Das Geschöpf ging langsam um uns herum wie ein Geier, der das Aas betrachtet. »Schwer zu sagen. Selbst für
mich. Heute bin ich die eine, morgen eine andere.« Es beugte sein faltiges Gesicht zu mir und zeigte noch mehr
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