MERS
gehört…?
»Was ist los?« Mark beugte sich zu mir herüber. »Du siehst schrecklich aus, altes Haus. Bist du krank?«
War ich krank? Ja. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht denken. Ich spürte, daß ich starb. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin in Ordnung… nur müde. Es ist ein langer Tag gewesen.«
Er war nicht überzeugt, hakte aber nicht weiter nach. Er lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, schmiedete Pläne mit Anna für die Fahrt morgen nach Nomansland, verschaffte mir Raum. Ich war nicht bereit, es ihnen zu sagen. Wie könnte ich je bereit sein, es ihnen zu sagen?
Tatsache war, daß das Leben eine Groteske zuviel für mich bereitgehalten hatte. Von der Ministerin mundtot gemacht zu sein, damit konnte ich leben. Auch verwanzt zu sein, auch mit der durchgeschnittenen Kehle meiner Katze, der Bedrohung des Lebens meiner wunderschönen Tochter. Mit all dem konnte ich klarkommen. Aber das kostete etwas, und daß mein Bruder ein Serienkiller war, kostete etwas zuviel.
Keine der offensichtlichen Alternativen sagte mir zu. Nervenzusammenbruch, Saufen, sich unter dem Bett verstecken – das brächte mich aus der Sache heraus, aber nur auf Kosten meiner Selbstachtung, und der Preis wäre unannehmbar. Was blieb mir denn noch außer meiner Selbstachtung?
Eine Alternative blieb. Unvernunft. Zurechtkommen durch Nicht-Zurechtkommen. Unvernunft. Ich konnte nicht zurechtkommen, aber ich konnte zurechtkommen… Meine Erinnerungen an den folgenden Tag sind deutlich, jedoch zusammenhanglos, wie ein Drogentrip. Leute und Ereignisse pusten sich in meinem Bewußtsein auf, werden riesig groß und über-real, schrumpfen daraufhin zusammen und verlieren mein Interesse. Ich glaube, daß ich mich nicht gut benommen habe. Ich weiß, daß ich’s nicht getan habe.
In jener ersten Nacht fand ich keinen Schlaf. Ärzte sind an Patienten gewöhnt, die vergangene Nacht kein Auge zugetan haben, und eine Stunde Schlaflosigkeit liegt der Wahrheit näher, aber ich weiß, daß ich nicht schlief, weil ich nicht zu Bett ging. Die meiste Zeit über setzte ich mich nicht. Die meiste Zeit über lief ich unablässig umher.
Ich weiß nicht, was ich Anna sagte. Sie wußte, daß ich völlig durcheinander war, sie hätte blind und taub sein müssen, wenn sie’s nicht bemerkt hätte, und ehe sie zu Bett ging, müssen wir über irgend etwas gesprochen haben, aber ich weiß nicht, worüber. Meine Erinnerung wird deutlicher, nachdem sie zu Bett und Yvette auf ihr Zimmer und wir ins große Wohnzimmer gegangen waren. Mark stand mit dem Rücken zum Kamin da, traditionell mit dem Rücken zum traditionellen Kamin. Was ist er doch für ein liebenswert traditioneller Mann, und ich habe ihm gerade gesagt, daß mein Bruder Daniel der Karate-Killer sei.
Natürlich glaubte er mir nicht, und als ich ihm die Sache mit den Ringen erklärte, sagte er, es könne Zufall sein, und dann habe ich zu erklären, daß das erste Datum paßte, daß Daniel das Naturell für den Karate-Killer hat, den Karate-Killer, und dann erinnere ich mich, wie ich vom zweiten Mord gehört hatte, und war das nicht am Tag, als ich ihm von Anna erzählt hatte, also bin ich es vielleicht, die er haßt, nicht Mama, nicht im geringsten, und dann sagt Mark, falls ich mir so sicher sei, müßte ich zur Polizei gehen.
Da verstumme ich und starre ihn an, und nach einer Weile sage ich: »Zur Polizei? Du meinst, meinen eigenen Bruder verraten?«
Und Mark erwidert: »Ja. Wenn er wirklich der Karate-Killer ist, mußt du es tun.«
Der Karate-Killer. Ich weiß, ich muß zur Polizei gehen, aber ich kann es nicht. Vielleicht täte ich es, wenn Daniel nicht der Karate-Killer wäre, wenn er etwas anders wäre, Tai-Chi-Würger, irgend etwas anderes als die Alliteration Karate-Killer, weil ›Karate-Killer‹ ein Ausdruck ist, den ich stets gehaßt habe, und zwar vom ersten Augenblick seines Aufkommens an. Er ist billig. Billig und häßlich, wie Mama früher von den Dingen im Dorfladen sagte. Billig und häßlich. Ich kann nicht zur Polizei gehen und ihnen sagen, daß Danno billig und häßlich ist.
Mark und ich reden viel. Ich sage zu ihm, Danno ist mein Bruder. Ich sage zu ihm, ich kann nicht zur Polizei gehen. Ich sage ihm Dinge, die ich ihm niemals gesagt habe, über meine Kindheit, Mama und Papa. Er sagt, wenn ich nicht zur Polizei ginge, würde er es selbst tun müssen. Ich frage ihn, was wir wegen meiner gestohlenen Forschungsergebnisse unternehmen
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