MERS
Patientinnen glauben anscheinend, daß man ihnen gestattet, den Embryo voll auszutragen.«
»Ich weiß.«
»Man sagt es ihnen nicht, stimmt’s?«
»Nicht genau.«
»Nicht genau?«
Die diensthabende Schwester war eine ostentativ beschäftigte Frau, die ihre Aufmerksamkeit stets auf etwas gerichtet hatte, das gerade über Harriets Schulter hinweg dringend erledigt werden mußte. »Unsere Patientinnen sind Freiwillige, Doktor. Sie unterzeichnen eine Verzichtserklärung, aber nur wenige lesen sie. Sie wollen lieber hoffen. Wir würden viele von ihnen verlieren, wenn wir ihnen das nicht erlauben würden.«
»Die Unehrlichkeit macht Ihnen nichts aus? Macht Ihren Schwestern nichts aus?«
»Sie richtet keinen Schaden an. Und es ist für eine gute Sache.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Doktor…«
Harriet ließ sie gehen. Es war jetzt nicht an der Zeit für Diskussionen darüber, was besser war. Die Patientinnen waren glücklich, die Krankenzimmer makellos, die Forschung verlief reibungslos – was konnte sie da mehr verlangen? Hildebrand, und vermutlich Fovas über ihm, hatten ein gutes Gewissen. Harriet Ryder hatte das unangenehme Bedürfnis, ihre Rechtschaffenheit wie ein Banner vor sich herzutragen. Wenn sie den Job annahm und hier Veränderungen notwendig wären, würde sie diese so unauffällig wie nötig durchführen.
Würde sie den Job annehmen? Von dem Augenblick an, da ihn Fovas ihr angeboten hatte, hatte sie gewußt, daß sie ihn annehmen würde. Er vergrößerte ihre praktische Erfahrung und sähe gut in ihrem Lebenslauf aus. Auch würde er ihr Denken befreien, weil er sie aus Unikhems bedrückendem Laborforschungsprogramm herausbrächte. Sie könnte ihr Geld annehmen, und es sich anständig verdienen, und gleichzeitig ihren eigenen Ideen nachgehen.
Welchen Ideen? Sie sprach sie nicht gern aus. Sie suchte nach einem Virus. Sie war keine Virologin. Viren waren sowieso aus der Mode gekommen, Retroviren ebenfalls, aber irgend etwas sagte ihr, daß dort der Durchbruch zu erzielen wäre. Deshalb ihre Arbeit an den WHO-Aufzeichnungen. Weise einen einzigen geographischen Geburtsort für das Syndrom nach, und es gäbe viel triftigere Gründe für ein Virus.
Etwas war merkwürdig. Warum hatte Professor Fovas, die ihr heikles Gewissen kannte, sie nicht vor der jämmerlichen Selbsttäuschung der Freiwilligen gewarnt? Zunächst die Sache mit dem Fernsehen, und dann das hier. Vielleicht wurde sie getestet. Vielleicht wollte Unikhem sie loswerden, getraute sich aber nicht, sie zu feuern, und hoffte darauf, daß sie von alleine ginge. Sie würde sie enttäuschen.
Nach einem Schwatz mit Professor Fovas ging sie früh nach Hause. Sie hatte gute und schlechte Neuigkeiten für Liese. Es würde beträchtlich mehr Geld geben, aber keine Laborstunden mehr von neun bis fünf. Der vertraglich verpflichtete Chirurg setzte die Implantate außerhalb seiner Krankenhausarbeit ein, oftmals des Abends, und er erwartete von Harriet, daß sie assistierte. Sie würde viel lernen, aber sie würde das regelmäßige Beisammensein mit Anna verlieren, das Bad, die abendliche Zubettgeh-Geschichte. Liese, die ja einen Abschluß in Erziehung hatte, hielt so etwas für wichtig.
Harriet, voll von ihren Neuigkeiten von Unikhem, hatte ebenfalls vergessen, nach dem Waldspaziergang zu fragen. Und sie mußte ihre Aufmerksamkeit auf das verschrumpelte Bündel Farnkraut in einem Topf auf dem Küchentisch lenken lassen. Harriet, die keinen Abschluß in Erziehung hatte, war nicht sehr gut gewesen.
Liese wartete, bis Anna im Bett lag.
Dann sagte sie: »Du mußt dir das gründlich überlegen, Har’, ehe du diesen neuen Job annimmst.«
»Ich habe überlegt.« Sie waren im Wohnzimmer. Harriet hatte die Füße aufs Sofa gelegt. »Sehr gründlich.«
»Wir können ohne das Geld auskommen. Das weißt du.«
Sie wußte es. Sie wollte den Job.
»Leicht zu sagen, Liese, Liebes. Du bist eine Heldin. Du vollbringst Wunder. Aber…«
»Übrigens wird Annie in einem Jahr auf einer richtigen Schule sein.« Liese sagte nichts dagegen, eine Heldin zu sein. »Nur ein paar Stunden, aber ich könnte einen kleinen Job annehmen.«
Harriet runzelte die Stirn. Das Thema, einen kleinen Job anzunehmen, tauchte häufig auf. »Wenn du Zeit brauchst, wo du keine Löffel abtrocknest, könntest du dir die leicht nehmen, wenn ich mehr verdiene.«
»Ich hab mein Lebtag noch keinen Löffel abgetrocknet.« Liese war beleidigt, anders
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