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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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daß sie weniger sind.«
    »Das ist hart, Harriet.«
    »Das ist wahr. Sie wissen, daß ich bestehen werde. Warum sollte das eigentlich nicht ausreichen?«
    Julius setzte sich wieder, schenkte Tee ein und blickte sie nachdenklich an, nicht, weil er keine Antwort hätte, klar, sondern weil er mehrere Antworten hatte und eine auswählte. Ein melodiöses Ich bin’s- Pfeifen vom Flur her ersparte ihm die Entscheidung. Der Papagei wiederholte es genau – das war sein einziger Versuch, etwas nachzuahmen – und kletterte aufgeregt seitwärts an den Käfigstangen auf und nieder.
    Die Vordertür fiel ins Schloß, und Anka erschien im Wohnzimmer, den Sonnenhut tief über den Augen. Sie war beladen mit Einkaufstaschen.
    »Teezeit«, sagte Julius zu ihr. »Ich bin mir so sicher gewesen, daß du’s schaffst, da habe ich dir eine Tasse hingestellt.«
    Anka hängte ihren Hut an den Türknauf, stapelte ihre Taschen am oberen Treppenabsatz, holte aus einer davon eine Pflaume und stopfte sie vorsichtig zwischen die Stäbe von Pollys Käfig. So sehr sie der Papagei auch liebte, er liebte es mehr, Leuten Stücke aus dem Finger zu hacken. Anka flüsterte ihm etwas zu, das Harriet nicht verstand.
    Anka Stollman hatte keine Stimme. Wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, so pfiff sie: daraufhin flüsterte sie. Sie besaß einen Stimmsynthesizer, den sie verabscheute und nie benutzte. Die Laute, die er produzierte, waren aus ihrem Gesang auf den Pop-CDs der neunziger Jahre hergeleitet, und ein Element, das Altern vortäuschte, war ebenfalls eingebaut. Julius sagte, es sei überzeugend, sie jedoch verabscheute ihn noch immer.
    Harriet verstand den Grund. Es war nicht ihre Stimme, anders als ihr Flüstern. Wenn man sich darauf konzentrierte, war Anka Stollmans Geflüster das ausdrucksvollste weit und breit. Sie hätte einen Verstärker benutzen können, aber das wies sie ebenfalls von sich: sie sagte, damit höre sie sich an wie der Geist in Hamlet.
    Ankas Stimmverlust war das Ergebnis eines verpfuschten frühen biotechnischen Implantats. Ein Radiomikrofon. Etwa fünfzehn Jahre vor Beginn des Bevölkerungsrückgangs war sie groß herausgekommen, und sie war Julius bei einer Aufnahmesitzung begegnet. Er saß an den Keyboards, letzte Zuflucht für Pianisten, nachdem die klassische Konzertplattform sozusagen zu nichts geschrumpft war. Grund hierfür waren die Weltrezession, Raum-Multiphonics, populistische Regierungen, ganz wie man wollte. Drei Monate später zogen sie zusammen, und sechs Monate danach ging ihr Implantat kaputt. Die Bioverbindungsstränge begannen, an Stellen zu wachsen, wo sie es nicht hätten tun sollen, und als man es bemerkte, konnte man sie lediglich noch dadurch entfernen, indem man zugleich den größten Teil ihres Stimmapparats mit den Mikrofonen entfernte.
    Eine Weile lang gab Julius Klavier- und Keyboardstunden in der Stadt, dann kamen sie hierher. Sie hatte Gespür gehabt und während ihrer goldenen Tage ein wenig beiseitegelegt, und in den ersten Jahren, nachdem ihre Stimme hinüber war, hatte sie mehr denn je verkauft. Fast so gut, wie an einem goldenen Schuß zu sterben, hatte ihr Agent gesagt. Aber es hatte nicht angedauert. Jetzt malte sie – die abstrakten Bilder im Zimmer waren von ihr –, und sie hatte die Zeichensprache erlernt, so daß sie an einer Schule für Gehörlose ein paar Kilometer die Küste hinab Kunst lehren konnte. Harriet fand sie wunderbar.
    Harriet liebte Julius, aber Anka hielt sie für bewundernswert und wunderbar.
    Anka setzte sich ordentlich auf das Sofa neben ihr. Die Kissen dort bereiteten Anka niemals Probleme: sie hatte diese schon längst zu Objekten ihres überlegenen Willens gemacht.
    »Harriet – es freut mich, dich erwischt zu haben. Bitte sprich doch ein paar Worte mit deiner Mutter, mir zuliebe, ja? Sie organisiert noch immer ihren Rettet-die-Babies-Fond?«
    Harriet nickte.
    »Und der hat was mit Erziehung zu tun, daß man die Kleinen nicht einfach wegputzt oder so etwas in der Art?«
    »… Er versucht’s zumindest.«
    Anka bemerkte ihr Zögern. »Offensichtlich lassen sich chinesische Mütter nicht davon abhalten, ihre weiblichen Säuglinge wegzuwerfen, auch wenn sie erfahren, daß es keine männlichen Säuglinge mehr geben wird. Aber er gibt sich wenigstens Mühe… Wenn ich’s recht verstehe, sind moslemische Mütter gleichfalls damit beschäftigt.«
    »Nicht ganz. Dort sind’s die Männer.«
    Anka seufzte. »Na ja, wenn man eine Religion haben muß, so

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